Klettern im Rosengarten Nichts als Türme und Tiefe
Als Irma Glaser im August 1911 mit ihren beiden Partnern Piaz und Jori in diese Kante einstieg, ahnte sie nicht, welchen Stein sie mit dieser Erstbegehung ins Rollen brachte. Die Delagokante wurde zu einer der beliebtesten Kletterziele im ganzen Alpenraum. Wenn sich über ihr auch noch ein makellos blauer Himmel ausbreitet, wirkt das Ganze fast schon ein wenig kitschig. Wir reden hier tatsächlich von einer perfekten Kante: scharf geschnitten wie der Bug eines Schiffes, immer steil und immer extrem ausgesetzt. Da ist es, wenn man sie von unten betrachtet, schon fast unglaublich, dass die Schwierigkeiten den oberen vierten Grad nicht überschreiten.
Die perfekte Mädchentour? In meiner Jugend gab es bei den extremeren Kletterern zwei Möglichkeiten die Delagokante zu begehen: entweder nach einer wilden und schweren Route als seilfreier "Nachmittagsspaziergang" oder aber, frisch verliebt, mit der neuen Freundin. In beiden Fällen spielte das eigene Ego und ein postpubertäres Geltungsbedürfnis eine nicht unerhebliche Rolle.
Klettern oder Liebe?
Die Delagokante wurde so schon früh zum Prüfstein für manche Beziehung, nicht nur bei mir. Auch von vielen anderen Kletterern kursieren ähnliche Geschichten. So manch Angebetete hat schon am Einstieg oder in der ersten steilen Seillänge das Handtuch geworfen und kritisch hinterfragt, ob Kletterer wirklich für eine lange, einfühlsame Beziehung geeignet sind. Wenn es die Liebste dann doch bis zum Gipfel schaffte, war die Begeisterung entsprechend groß. Ein liebevoller Kuss, eine Umarmung und ein dickes Lob versuchten zu retten, was zu retten war. Sie wusste ja in dem Moment noch nicht, welch ausgesetzte und spektakuläre Abseilfahrt auf der anderen Seite auf sie wartete. Übrigens: Mit einem dieser Mädchen von damals bin ich heute glücklich verheiratet, wir klettern noch immer und verziehen hat sie mir auch.
Ab in den Süden, denn daheim herrscht Nordstau. Ein Tiefdruckgebiet nach dem anderen drückt von der Nordsee gegen die Alpen und entlädt nicht enden wollenden Dauerregen. Was gibt es da schöneres, als diesem Schlechtwetter zu entfliehen? Gut, so mancher Stau am Brenner bremst gerade an langen Frühlingswochenenden die euphorische Fahrt. Die Kehren am Karer- oder Sellapass sind jedes Mal wieder mühsam. Der Aufstieg zur Gartlhütte wird wohl auch in Zukunft nicht flacher werden. Er ist steil und an sonnigen Tagen unangenehm heiß.
Nervenkitzel pur
Wenn man dann die Vajolettürme sieht und zuletzt die exponierte Delagokante, schlagen wie seit über 100 Jahren die Emotionen unzähliger Kletterer Kapriolen. Hier werden auch die Hände routiniertester Felsgeher feucht. Kaffee und Kuchen in der nahen Hütte können die Nerven da nur kurz beruhigen.
Fast ein Dutzend schöner, aber gleichzeitig auch anspruchsvoller Routen im vierten und fünften Schwierigkeitsgrad gibt es im Bereich dieses spektakulären Felskessels. Wenn man die enorme Steilheit der Wände und Grate bedenkt, ist dies eigentlich unglaublich.
Quert man die Schrofen zum Einstieg der Delagokante, erscheint sie einfach gigantisch. Noch größer ist dann allerdings das Staunen über den immer kletterfreundlichen Fels, die wunderbar logische Linie und die Vollendung, in der sich alles auflöst. Die Standplätze sind mittlerweile gebohrt, die Zwischensicherungen ausreichend. Es sind nur vier Seillängen, aber die sind zum Muss geworden für den Genusskletterer mittlerer Schwierigkeitsgrade.
Zu Beginn wartet Wandkletterei, dann folgen die wirklich exponierten Seillängen direkt an der Kante. An den kritischen Passagen ist der Fels abgegriffen, aber die Qualität der Kletterei und die Ausgesetztheit machen dieses Manko tausendfach wett. Erst in der letzten Seillänge wird der Fels etwas gestufter, es kommen Absätze und Bänder. Am Gipfel wartet dann eine letzte Überraschung: Plötzlich ist es flach, ein paar Quadratmeter ebener Fels, man kann stehen und schauen. Wilder als hier werden die Dolomiten nicht mehr. Ringsum Türme und Tiefe. Die Abseilfahrten zurück zum Einstieg sorgen anschließend nochmals für etwas Nervenkitzel.
Man könnte jetzt Freizeit-Stress machen und eine weitere Tour klettern. Aber warum? Die Alternative heißt faulenzen und staunen. Für den Sonnenuntergang empfiehlt sich ein Spaziergang hinauf zum Santnerpass und den leeren Magen wird die Küche der Gartlhütte schon füllen.
Punta Emma: Zweiter Klassiker im Rosengarten
Am nächsten Morgen sorgt ein zweiter Klassiker für Abwechslung. An der Punta Emma, einem Gratabsatz der Rosengartenspitze, gibt es ebenfalls sehr schöne Routen im mittleren Schwierigkeitsbereich. Auch hier hat Tito Piaz Geschichte geschrieben.
Im Jahr 1900 hat er im Alleingang den Piazriss erstbegangen. Die Kletterei ist völlig anders als an der Delagokante. Die Route folgt einer gewaltigen, markanten Rissverschneidung. Logisch in der Linie, kompromisslos steil, eine Mischung aus Wand- und Risskletterei.
Frei geklettert erreichen zwei Stellen den fünften Grad. Vor allem bei Nässe ist hier Vorsicht geboten. Anschließend ziehen leichtere Seillängen auf der rampenartigen Verschneidungswand hinauf zum erstaunlich großen Gipfelplateau. Ein Platz an der Sonne ist hier garantiert. Bloß kein Stress im Rosengarten.