Lahemaa-Nationalpark in Estland Versteinerte Teufel

Der Lahemaa-Nationalpark im Nordosten Estlands ist einer der letzten unberührten Orte an der Ostsee. Reizvoll ist er durch die abwechslungsreiche Natur – und die mythischen Geschichten ihrer Bewohner.
Von Alva Gehrmann

Anne Kurepalu steht an der Tür, lächelt freundlich. Ich strecke ihr zur Begrüßung die Hand entgegen, doch sie zuckt zurück. "Man darf sich in der Türschwelle nicht die Hand geben", sagt die Historikerin, "sonst wird man zu Feinden." Es stimmt also doch, was man gelegentlich über die Esten hört.

Einerseits ist Estland ein ungewöhnlich modernes Land: Jeder Bürger hat per Gesetz das Recht auf kostenlosen Internet-Zugang, und die Cola kann mit einer SMS bezahlt werden. Andererseits ist hier auch über die Jahrhunderte der Aberglauben erhalten geblieben: So pfeifen Esten nicht, wenn sie im Haus sind, es könnte sonst abbrennen. Und wer sein T-Shirt falsch herum anzieht, wird kurz darauf verprügelt. Klingt verrückt, aber diese Regeln gibt es wirklich. Viele halten sich daran, selbst diejenigen, die es nicht wirklich glauben. Sicher ist sicher.

Also warte ich bis Anne Kurepalu aus dem Haus kommt. Quasi auf sicherem Terrain erfolgt die Begrüßung. Kurepalu ist eine sportlich gekleidete Frau um die 50 und Touristenführerin im Lahemaa-Nationalpark, dessen zentrale Anlaufstelle der kleine Ort Palmse ist.

Estlands größter Nationalpark ist knapp eine Autostunde von Tallinn entfernt, 70 Kilometer gen Osten fährt man, um dann inmitten einer abwechslungsreichen und eigenwilligen Natur zu stehen: dichte Wälder, Hochmoore, Elche, Wildschweine und über 220 Vogelarten gehören ebenso dazu wie die weit ins Meer reichenden Halbinseln und die vielen Buchten. Sie geben dem Nationalpark auch seinen Namen: Lahemaa bedeutet "Land der Buchten".

Der Park umfasst 726 Quadratkilometer - ein Drittel davon ist Meer - und lässt sich gut in mehreren Etappen erkunden, mit dem Fahrrad oder zu Fuß. Es gibt Wanderwege und Lehrpfade, die sicher durch den Urwald führen. Urwald, so wird der Kiefern-, Fichten- und Birkenwald hier wirklich genannt.

Findlinge verrücken bringt Unglück

Wer durch den Wald spaziert, sieht immer wieder seltsame runde Steine - meist mit Moos bewachsen. Solche Findlinge sind charakteristisch für die Natur Nordestlands; im Nationalpark gibt es davon Tausende - kleine Steine bis hin zu Riesenfindlingen mit einem Umfang von 30 Metern.

Um die Steine bildeten sich in früheren Zeiten Legenden: Bei einigen soll es sich um versteinerte Teufel handeln, andere hat der Riese Kalevipoeg - Held des estnischen Nationalepos - dort hingeworfen. Deshalb gilt auch heute: Findlinge verrücken bringt Unglück. Notfalls wird der Gartenzaun um den Stein herumgebaut. Und das, obwohl mittlerweile die Herkunft der Steine geklärt ist. Vor rund 11.000 Jahren - nach der letzten Eiszeit - sollen sie durch Gletscherbewegungen von Skandinavien an die estnische Küste geschoben worden sein.

Finnland ist gerade mal 80 Kilometer entfernt. Die Nähe der beiden Länder zeigt sich auch in der Sprache, Finnisch und Estnisch gehören beide zum finno-ugrischen Sprachstamm. Die Esten fühlen sich seit jeher mehr als Skandinavier, denn als Balten. Beide Nationen verbindet eine gute Freundschaft, die sich besonders in Notzeiten bewährt hat.

So wie in den Zwanzigern und Dreißigern: Damals war Alkohol in Finnland verboten, also schmuggelten die Esten ihren Freunden den Branntwein unter Einsatz ihres eigenen Lebens nach Finnland. Viinistu, ein kleiner Küstenort im Norden des Nationalparks, wird noch heute "Hauptstadt der Schmuggler" genannt. Dieses Engagement machte die Dorfbewohner reich, sie bauten in Viinistu für die Region ungewöhnlich große Häuser - im finnischen Stil. "Mittlerweile ist es dort ruhig geworden, die Schmuggler sind längst in Rente gegangen", erzählt Anne Kurepalu.

Frauen durften die Boote nicht betreten

20 Kilometer an der Küste entlang, gen Osten, liegt ein anderer geschichtsträchtiger Ort: Käsmu - das "Dorf der Kapitäne". Einst gab es hier eine Seefahrtschule; 62 Kapitäne lebten Ende des 19. Jahrhunderts im Fischerdorf. Einer von ihnen war Arne Vaiks Großvater.

An die alten Seefahrerzeiten erinnert der 62-jährige Vaik heute mit einem kleinen, liebevollen Meeresmuseum, in dem sich auch seine Wohnung befindet. Der Este ist leidenschaftlicher Sammler, und so stapelt sich im Haus alles, was er im Laufe seines Lebens zusammengetragen hat: zum Beispiel ein alter Anker, Holzkisten mit deutscher Aufschrift "Estnische Butter" und Überreste eines kleinen Fischerbootes.

Arne Vaik erzählt von abergläubischen Fischern: Die fuhren nie freitags mit ihren Booten raus. Ebenso durften die Fischer nicht von Bord pinkeln, sonst wären sie mit leeren Netzen zurückgekommen. Und Frauen war es strengstens verboten, ein Schiff zu betreten, das hätte nur Unglück gebracht. Ihre Aufgabe war es, auf die Männer zu warten, oft vergeblich, weshalb Käsmu den Beinamen "Dorf der Witwen" hat.

Das romantische Fischerdorf ist wie der gesamte Nationalpark erst seit der Unabhängigkeit Estlands zu neuem Leben erwacht, denn zu Sowjetzeiten war das Gelände Sperrgebiet. Esten durften den Park nur mit einer Sondergenehmigung besuchen. Im Westmeer, wie die Ostsee hier genannt wird, steckten Zäune. Heute ist der Blick auf das Meer wieder frei, aus dem Wasser ragen große Findlinge. Arne Vaik liebt diesen Meerblick. Sogar so sehr, dass er jeden Tag ein kleines Ölbild davon malt. Immer von der gleichen Stelle aus: seiner Küche.

Beim Spaziergang an den weiten Sand- und Steinstränden finden auch gestresste Esten ihre Ruhe. In Käsmu haben sie ihre Sommerhäuser. Viele der kleinen Holzhäuser sind um die 100 Jahre alt. In einigen befinden sich gemütliche Pensionen, so dass auch der Besucher in vergangene Zeit eintauchen kann.

Naturpark-Infostelle im Gutshaus Palmse

Eine Zeitreise ins 17. und 18. Jahrhundert erlebt, wer die schlossartigen Herrenhäuser besucht. Sie erzählen einen weiteren Teil der estnischen Geschichte, die stark von Deutschen geprägt ist. Fast sieben Jahrhunderte herrschte in der Region der deutsch-baltische Adel; estnische Bauern mussten im Frondienst arbeiten.

Die Gutshöfe sind geprägt von der Kultur Westeuropas. So hat das Gut Sagadi, im Osten des Nationalparks, einen symmetrischen Grundriss - ganz im Stile des Barocks. Das 1749 errichtete Herrenhaus, einst im Besitz der Familie von Fock, ist heute ein Museum. In den Sälen stehen zwar nicht mehr die Originalmöbel, trotzdem sind diese im historischen Stil. Zum Beispiel die alte Standuhr, die stündlich in der Melodie von Big Ben läutet.

Nur zehn Kilometer von Sagadi entfernt, befindet sich eines der am sorgfältigsten restaurierten Güter Estlands. Es steht in Palmse, dem Ausgangspunkt der Nationalpark-Tour. Von 1677 bis 1923 war das Gut im Besitz der Familie von der Pahlen. Das Adelsgeschlecht führte ein aufregendes Leben: Carl Magnus von der Pahlen nahm am Krieg gegen Napoleon teil, sein Sohn Alexander war einer der Hauptinitiatoren beim Bau der Eisenbahnlinie zwischen Tallinn und St. Petersburg.

Zum Gut gehören etliche Nebengebäude: In der ehemaligen Schnapsbrennerei ist heute ein Hotel, und im Pferdestall befindet sich die Infostelle des Nationalparks. Das Besucherzentrum organisiert Führungen - dabei werden auch Sonderwünsche erfüllt. Einmal ist eine Gruppe aus Japan extra zum Pilzesammeln angereist. Pilze gedeihen hier, ebenso wie Beeren, prächtig. In Estland weiß jedes Kind, welche Pilze essbar und welche giftig sind. Die japanischen Besucher lernten es in einem Workshop. Dafür grenzte Anne Kurepalu einen Bereich mit roten Fahnen ein, "damit mir im dichten Wald die kleinen Japaner nicht verloren gehen".

Pilze sammeln ist also erlaubt. Blätter und Äste sollte man lieber nicht mitnehmen - zumindest nicht von den heiligen Bäumen. Davon soll es im Lahemaa Nationalpark noch einige geben. Früher glaubten die Esten, dass man dann krank werde oder demjenigen etwas Schlimmes passiere. Also lasse ich lieber die Finger davon. Sicher ist sicher.

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