
Historische Routen: Europa vom Auto aus verstehen
Legendäre europäische Reiserouten Die USA haben die Route 66, Europa hat Geschichte
Die dicken Dinger liegen auf der Kofferraumablage oder vergessen zwischen den Krümeln im Handschuhfach. Sie kommen zum Einsatz kurz vor der letzten Langeweile, wenn auf der Fahrt in den Urlaub selbst "Ich sehe was, was du nicht siehst" durchgespielt ist: die großen Europa-Straßenatlanten. Von außen zerfleddert, und drinnen dann nur ein Labyrinth aus bunten Linien, die nichts erzählen. Scheinbar.
Auch der niederländische Autor Mathijs Deen ist damit aufgewachsen: "Ich gehöre zur Generation Rücksitz", sagt der Endfünfziger über die Reisen seiner Kindheit in der Ente seiner Eltern. "Ich lernte Europa vom Auto aus kennen, nicht von oben, vom Flugzeug aus."
Vor ein paar Jahren hat sich der Radiojournalist, der sich auf Historisches spezialisiert hat, erneut aufgemacht - und ist in seinem Citroën C3 quer durch Europa gefahren, immer entlang historischer Routen, "sicher 10.000 Kilometer", schätzt er.

Historische Routen: Europa vom Auto aus verstehen
In seinem Buch "Über alte Wege" erzählt Deen die Geschichten hinter dem E-Straßen-Wirrwarr. Und er vermittelt ein länderübergreifendes Gemeinschaftsgefühl: Wenn man dem Rhein folge - dort den Schwarzwald, drüben die Vogesen - weiter in die Schweiz fahre, über die Berge nach Italien und in einer anderen Kultur lande, begreife man, was es heiße, Teil von Europa zu sein.
SPIEGEL ONLINE: Herr Deen, es gibt legendäre Reisewege wie die Route 66 oder die Panamericana. Wieso haben wir Europäer nicht auch eine Straße mit derartigem Symbolwert?
Mathijs Deen: Die Route 66 ist so aufgeladen, weil sie ein Wahrzeichen für die Entstehung einer Nation ist. In Europa gab es so etwas nicht: Die großen Wege und Städteverbindungen existierten lange vor den Nationen. Damit etwa eine der Europastraßen ein Image bekommt wie die Route 66, müssten die Leute, die auf ihr unterwegs sind, eine ebenso mächtige Story teilen.
SPIEGEL ONLINE: Reicht Europa selbst nicht als Story?
Deen: Doch, aber es ist schwierig geworden, zu den Europastraßen und ihrer Geschichte eine emotionale Verbindung herzustellen. Als man 1950 nach dem Zweiten Weltkrieg das Europastraßennetz aufbaute, wollte man vor allem Hauptstädte verbinden: etwa von London nach Paris nach Rom. Alles entlang der Wege, die in unserer europäischen Geschichte wurzeln.

Mathijs Deen, 1962, ist ein niederländischer Schriftsteller und Radiojournalist. Sein Romandebüt "Unter den Menschen" von 1997 erschien im Frühjahr erstmals auf Deutsch bei Mare. Er lebt in Amsterdam.
Damals waren es nur 24 bis 26 Straßen. Dann baute man aus: die Haupt-Ost-West-Verbindungen wie die E10 (von Å in Norwegen nach Luleå in Schweden, Anm. d. Red.), E20 (von Shannon in Irland nach Sankt Petersburg in Russland), E40 (von Calais in Frankreich bis Ridder in Kasachstan) - und die Straßen von Nord nach Süd wie die E5 (von Greenock in Schottland nach Algeciras in Spanien) und die E25 (von Hoek van Holland in den Niederlanden bis nach in Palermo in Italien).
Auf einmal war das Netz losgelöst von Historie und wurde zum abstrakten Muster. Damit verschwand aus dem kulturellen Gedächtnis, aus welcher Katastrophe diese Straßen hervorgegangen sind, dass sie Teil eines neuen Europas waren. Vielleicht wurde es den Leuten auch mit der Zeit egal. Sie sitzen nun im Auto und schauen nicht mal mehr auf die Landschaft, sondern folgen nur dem Navi.
SPIEGEL ONLINE: Sie haben den Straßen Europas ein ganzes Buch gewidmet und sind die großen Routen abgefahren, quer durch die Jahrhunderte, immer auf den Spuren historischer Figuren: eine Pilgerin auf dem Weg von Island nach Rom im Jahr 1025, ein Soldat Napoleons, 1812 unterwegs von Wassenaar nach Smolensk, ein Autorennen von Paris nach Wien 1902. Was steckt dahinter?
Deen: Ich wollte zeigen, wie viel uns eint, und dass all diese Verbindungen quer durch alle Länder uns Europäern gehören. Auch wenn diese Straßen immer wieder Feinde verbanden, manche extra für Heere gebaut wurden wie bei Cäsar, gab es ja nicht nur Zerstörung und Krieg. Wo man auch hinschaut: Diese Straßen sind der Grund dafür, warum wir so viel teilen - vom Handel über Entdeckungen und Erfindungen bis zu Kultur und Reiseerlebnisse. Dieser Zauber wurde mir als Kind klar: Wir waren auf der E8 von zu Hause in Twente (nahe der deutschen Grenze, Anm. d Red.) zu meinen Großeltern bei Utrecht unterwegs. Da sagte mein Vater, das sei nicht einfach eine Straße - sie führe von London nach Moskau, von einem magischen Ort zu einem anderen.
SPIEGEL ONLINE: Nur konnte man ja bis zum Ende des Kalten Krieges nicht einfach weiter gen Osten fahren. Erinnern uns diese jahrhundertealten Straßen daran, dass derartige Grenzen nicht für immer gelten müssen?
Über alte Wege: Eine Reise durch die Geschichte Europas
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31.05.2023 19.37 Uhr
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Deen: Genau darum geht es. Früher bekam man mit dem Interrail-Ticket auch eine Landkarte von Europa. Die Bahnlinien darauf gingen überall hin - den ganzen Weg bis Moskau. Der Eiserne Vorhang war nicht mal eingezeichnet. Das war ein Versprechen. Die Karte signalisierte: Wir gehören zusammen.
SPIEGEL ONLINE: Welche von jenen Straßen, die Sie beschreiben, hätte denn jene magische Kraft, das zu zeigen?
Deen: Es müsste eine sein, auf der man sich mit einem tiefen europäischen Bewusstsein verbunden fühlt. Vielleicht eine, die nach Rom führt wie die E25 oder E35, die Norden und Süden verbinden. Die E35 folgt der berühmten römischen Via Appia am Ende bis nach Brindisi. Auf dieser Route reiste etwa die isländische Pilgerin Guðríðr Þorbjarnardóttir im Jahr 1025 nach Rom, deren Geschichte ich in meinem Buch auch erzähle. Als ich dort selber unterwegs war, merkte ich: Wer auf den Spuren anderer Menschen reist, begegnet den Hürden, denen auch sie begegneten - das verbindet. Die Küstenlinie, die Berge, die Flüsse, das sind ewige Konstanten.
SPIEGEL ONLINE: Wir können also unterwegs die gleichen Ausblicke haben wie Menschen in grauer Vorzeit. Wo zum Beispiel?
Deen: Es gibt Stellen, die klarmachen: Diesen Blick hatten schon viele andere vor mir. Weil Straßen der Logik der Landschaft folgen, eine Biegung dem Fluss entlang machen oder um einen Berg herum. Das zeigt sich in Atapuerca in Spanien, wo Fossilien der ersten Menschen Europas gefunden wurden: Der Homo Heidelbergensis war da, der Neandertaler, die Römer führten ihre Straßen dort entlang, der Jakobsweg kommt da vorbei. Und nun kreuzen sich genau an diesem Punkt mit der E5 und E80 zwei Europastraßen. Solche Wege zeigen uns: Eine Landschaft ist wie ein Archiv.
SPIEGEL ONLINE: Haben Straßen mit ihrem Routenlauf auch das Potenzial, die Reisenden zu überwältigen?
Deen: Mir erging es so auf der Autobahn nach Toulouse: Auf einmal sind da die Pyrenäen. Sie tauchen auf wie eine Wand am Horizont, von Ost nach West, das hat mich umgehauen. Die ersten deutschen Autobahnen in den frühen Dreißigern waren vom Landschaftsarchitekten Alwin Seifert sogar genau dafür entworfen: für den Effekt. Um die Landschaft herauszustellen, während man von A nach B unterwegs war. Ein klarer Einfluss der Romantik.
SPIEGEL ONLINE: Moment - deutsche Autobahnen Anfang der Dreißigerjahre sind untrennbar von der Ideologie der Nationalsozialisten. Seifert war im Dritten Reich sogar "Reichslandschaftsanwalt".
Deen: Ja, der Leiter des Reichsautobahnwesens Fritz Todt hatte ihn beauftragt, Autobahnen zu entwerfen, die sich organisch in die deutsche Landschaft einfügten, um die Fahrer auf die Schönheit des Vaterlands aufmerksam zu machen. Das gilt als Erfindung der poetischen Autobahn. Dieses Konzept haben die Deutschen später aufgegeben, nicht nur wegen der dunklen Vergangenheit, sondern auch weil sie so gerne schnell fahren. Trotzdem ließen sich übrigens die Holländer nach dem Krieg von Seiferts Idee inspirieren, als sie die A1 bauten, die von Amsterdam zur deutschen Grenze führt. Die Römer und die Franzosen dagegen dachten die Strecke von A nach B als effiziente, direkte Linie.
SPIEGEL ONLINE: Wie navigierten Sie unterwegs?
Deen: Ich begann immer mit Faltkarten. Ich wollte sehen, wo genau die Berge, die Flüsse sind, die Details des Navis reichen mir nicht - es sagte mir unterwegs: "Sie können jetzt einen anderen Weg nehmen!". Denn ich hatte lauter alte Routen programmiert, für mein Kapitel über 1812 etwa durch Dörfer in Polen, die in Soldatenbriefen erwähnt waren.
Auf meinem Beifahrersitz stapelten sich neben den Karten auch Bücher - denn es gibt auch Formen literarischer Landkarten. Etwa in einem alten Gedicht über Brindisi zu Cäsars Zeiten: Der Hafen sieht heute noch genauso aus wie darin beschrieben, mit kleinen Booten, die auf der Dünung schaukeln. Ich saß dort, las die Zeilen mit Blick aufs Wasser - und die Jahrtausende verschwanden plötzlich.
SPIEGEL ONLINE: Manchmal ist die Landschaft nicht so unverändert - der Landweg von England nach Frankreich, den Sie in Ihrem ersten Kapitel beschreiben, ist heute kaum vorstellbar.
Deen: Dass Britannien eine Insel ist, ist erdzeitgeschichtlich eine Ausnahme. Bis zur vorletzten Eiszeit, das ist 450.000 Jahre her, gab es eine Landbrücke aus Kalkstein, die die Klippen von Dover mit Dieppe verband. Ende der vorletzten Eiszeit, als das Eis schmolz, gab es einen enormen Stausee, der dagegen drückte, bis sie brach und eine unvorstellbare Sturmflut ausgelöst haben muss. In Happisburgh fand man sogar 800.000 Jahre alte Fußabdrücke - was als Beweis gilt, wie weit Europa in der Altsteinzeit durchwandert wurde. Ich bin überzeugt, unser Bild von Europa wäre ganz anders heute, in Zeiten des Brexits: Wenn jener jahrtausendealte Landweg zwischen England und Frankreich noch existierte.