
Lost Places in Europa: Ballsäle, Kinos und Aufzugschächte
Fotografie verlassener Orte Wie eine Sucht

Christian Richter, 36, ist autodidaktischer Fotograf und erkundet seit seiner Jugend mit Vorliebe verfallene Architektur. Ein Freund schenkte ihm seine erste kleine Digitalkamera, seitdem hat er mehr als tausend Gebäude in Europa dokumentiert. Richter lebt in Jeßnitz in Sachsen-Anhalt.Webseite Christian Richter
SPIEGEL ONLINE: Herr Richter, Sie verraten nichts über die verlassenen Gebäude, in denen Sie fotografiert haben - weder Land noch Location. Warum?
Richter: Da es dort oft noch wertvolle Dinge wie Kronleuchter, Statuen oder Gemälde gibt, will ich die Plätze vor Dieben, Sprayern oder Vandalen schützen. Außerdem sollen die Fotos die Fantasie anregen - das würde nicht funktionieren, wenn man etwas über den Ort oder die Geschichte dahinter wüsste.
SPIEGEL ONLINE: Können Sie uns denn sagen, in welchen Ländern Sie fotografiert haben?
Richter: Unterwegs war ich etwa in Belgien, Frankreich, Rumänien und Polen. Überall gibt es tolle Architektur, die verfällt: in Italien eher Villen und Schlösser, in Deutschland Ballsäle und monumentale Industrieanlagen.
SPIEGEL ONLINE: Wie entdecken Sie die Orte?
Richter: Durch viel Recherche, Tipps und sehr zeitaufwendige Suche vor Ort. Auf einer Wochenendtour - vom ersten Tageslicht bis zum Abend - schauen wir uns etwa 50 Gebäude an, in einem davon entsteht mit Glück ein gutes Foto. Manchmal lohnt sich auch nur ein einziger Blickwinkel.
SPIEGEL ONLINE: Sie laufen einfach in die Gebäude hinein?
Richter: Ja, wir betreten solche Orte, wo niemand wohnt, ohne Erlaubnis, das ist eine Grauzone. Wir öffnen nichts, schlagen keine Fenster ein, sondern nutzen nur offene Zugänge - das können auch offene Kellerfenster oder mal ein Tunnel sein.
SPIEGEL ONLINE: Was fasziniert Sie daran?
Richter: Wenn ich stundenlang durch solche verlassenen Gänge oder Säle laufe, geht die Fantasie auch mit mir durch. Es ist ein besonderes Gefühl, wenn man dort steht, wo sehr lange niemand war. Ich möchte diese Architektur und ihre einstige Schönheit zeigen, den Verfall und wie sich die Natur den Ort zurückholt. Zugleich möchte ich dokumentieren, dass es diese Orte überhaupt gibt.
SPIEGEL ONLINE: Sie machen das schon seit Ihrer Jugend und führen Ihr Fotoprojekt ständig weiter. Das muss Sie ja wirklich gepackt haben!
Richter: Das ist wie eine Sucht - wie bei einem Extremsport! Am wichtigsten ist mir tatsächlich nicht die Geschichte der Gebäude, sondern das Auffinden und Betreten der Orte. Wenn der dann noch schön ist, werden Endorphine ausgeschüttet.

Lost Places in Europa: Ballsäle, Kinos und Aufzugschächte
SPIEGEL ONLINE: Leere Hallen, einsame Keller, bröckelnde Wände - ist das nicht unheimlich?
Richter: Ja, manchmal. In Belgien waren wir in einer verlassenen Schule mit dem Fotografieren schon fertig. Da sagte mein Kollege, dass er Klavierspiel hören würde. Wir sind den Tönen gefolgt, die zwar schräg, aber dennoch melodiös klangen. Im Keller fanden wir dann einen Mann, der auf einem kaputten Klavier spielte. Als er uns bemerkte, sagte er nur, es wäre besser für uns, wenn wir wieder gehen würden - und spielte weiter.
SPIEGEL ONLINE: Sind manche Gebäude nicht doch noch bewohnt?
Richter: Manchmal begegnen wir Obdachlosen. Und einmal, im Osten Deutschlands, hatten wir gerade einen Saal in einem leer stehenden Gebäude verlassen, als uns ein Mann mit langem Bart, Mähne und freiem Oberkörper entgegensprang. Was wir denn auf seinem Grundstück wollten, fuhr er uns an. Er erzählte dann, dass er nach der Wende das Gebäude gekauft hatte, die Renovierung aber nicht hätte finanzieren können. Nun würde er nur einen Raum der Ruine bewohnen. Das war traurig.

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SPIEGEL ONLINE: Sie wohnen in Sachsen-Anhalt. Gibt es dort noch lohnende Fotoobjekte für Ihr Projekt?
Richter: Als ich anfing zu fotografieren, gab es noch viele Industrieanlagen, alte Wohnhäuser - ich habe etwa fünf Terabyte Bilder gespeichert. Aber inzwischen ist hier nichts mehr erwähnenswert, vieles ist Solaranlagenfeldern gewichen. Deshalb reise nun ich in andere Gebiete und Länder, um vergessene Orte aufzuspüren.