
Matterhorn: Der schönste Berg der Schweiz
Viertausender-Besteigung Mountain-Porn am Matterhorn
Edward Whymper war der Erste auf dem Matterhorn, ein Brite, was die Schweizer bis heute schmerzt. Whymper kletterte im August 1865, zu einer Zeit, da es weder Goretex noch Bohrhaken noch Rettungshubschrauber gab. Und den Mythos lieferte der Erstbesteiger gleich mit. Beim Weg hinab stürzten vier Mann aus seiner Siebener-Seilschaft in den Tod, weil das Hanfseil riss.
Oder hatte Whymper die Leine gekappt, um das eigene Leben zu retten? Nicht jede Leiche wurde gefunden, aber ein Stück vom morschen Seil wird seither wie eine Reliquie verehrt. Ach Matterhorn, du alte Sau, so geil und grausam gleichermaßen. Du bist besser als jeder Marathon , genauso ungesund für den Körper, exklusiver Balsam für die Wohlstandsseele, Viagra für das Angstzentrum wegen dieses netten Restes an Todeswahrscheinlichkeit.
Okay, der Berg im Wallis ist nur halb so hoch wie der Mount Everest, aber mindestens so gefühlsecht. Über 500 Menschen fanden den Tod am Sehnsuchtsberg, abgestürzt, kreislaufverendet, von tückischem Bröckelstein erschlagen.
Wer die Tour überlebt, und das sind die meisten, nervt Mitmenschen für den Rest seiner Tage mit Heldengeschichten vom Horn. Manager, die sich mal wieder spüren wollen, depressive Familienväter in der Midlife-Krise, die auf Heldentod hoffen, Angeber, die das Gipfelbild als Bildschirmschoner brauchen. Ach, und danke, liebe Felsenkante, für die sieben Zentimeter lange Fleischwunde im Schenkel, die man sich notfalls nachher noch rasch selbst beibringt; Matterhorn-Narben sind die Eisernen Kreuze unserer Tage .
Echte Kletterer belächeln den Berg, sein Ruf hallt gleichwohl weltweit; der steile grauweiße Zahn oberhalb von Zermatt gehört wie Fuji, Kilimandscharo oder Mount Everest zur Premiumklasse globaler Erhebungen.
"Echte Angst, echte Gefahr, echtes Adrenalin"
Hunderttausende zahlen bereitwillig jedes Jahr jene Mondpreise, die den Zermattern und Tausenden Servicekräften aus der ganzen Welt in unwirtlicher Gegend ein Leben in Wohlstand bescheren. Tausende lauern in diesen Sommertagen wieder auf gutes Wetter, um sich einen Lebenstraum zu erfüllen: einmal da oben stehen, mit bebenden Knien am Gipfelkreuz, dem Schweizer natürlich. Dass wenige Meter weiter die italienische Spitze liegt, ist weitgehend untergegangen im Kult um den Schicksalsberg, der zum 150. Jahrestag der Erstbesteigung 2015 deutlich anziehen dürfte.
Tragödien, Endorphinfluten und im Tal die angstbebende Dirndlbraut - in Zeiten von Laktoseterror und Sohlenlüftung zur Schweißfußprophylaxe bietet der Schweizer Nationalberg echte Angst, echte Gefahr, echtes Adrenalin und für den Rest des Lebens echtes Did-it-Glück. Was dem Bezahlfernsehgucker seine TV-Erotik, das bedeutet dem Menschen mit Restnatürlichkeit der Aufstieg zum Toblerone-Gipfel. Marathon, Ironman, Finalkarten für DSDS - wer alles hatte im Leben und die letzte Grenze sucht, der krönt sein Dasein mit dem Höhepunkt im eisigen Wind, 4468 Meter über einem Meeresspiegel, an dessen Stränden Millionen rundum-sorglos-versicherter Normalos grillen. Der Berg als Extremsex-Ersatz - Mountainporn am Matterhorn.
Als habe RTL inszeniert, teilen sich Zermatt-Touristen in drei Gruppen. Da sind die Sandalenträger, die im Örtchen Postkarten kaufen, Fotos vom Berg machen und allenfalls mit der Seilbahn bis Schwarzsee fahren, was schon mal die ersten 1000 Höhenmeter bedeutet.
Die zweite, weitaus kleinere Gruppe, klettert von hier immerhin weitere 700 Höhenmeter bis zur Hörnlihütte, um wenigstens mal den kräftigen Duft des Basislagers zu schnuppern. Denn hier nächtigen die Helden, in einem muffig-wildromantischen Massenlager, um am nächsten Morgen pünktlich ab 3.50 Uhr mit knapp hundert anderen um die Wette die letzten 1200 Höhenmeter über Grat und Schulter zum Gipfel zu klettern, zwischen drei und sechs Stunden lang, je nach Kondition und Knieschlottern. Wenn der Hintern über dem Nichts baumelt und nur noch Vertrauen zählt in die Kraft von Seil und Karabiner und Bergführer, dann fiept manches Großmaul plötzlich nur noch. Der Berg ist gerecht.
Gipfeltraum für jedermann
Der Aufstieg von der Hörnlihütte ist eine ordentliche Leistung, keine Frage, aber nichts Übermenschliches. Der Zermatter Naturbursche Andreas Steindl hat die 2900 Höhenmeter von Dorf bis Gipfel in zwei Stunden und 57 Minuten geschafft, ganz ohne Seilbahn oder rackernden Sherpa. Bergsteiger-Legende Hans Kammerlander bestieg alle vier Hauptrouten nacheinander weg, in gut 23 Stunden. Da relativiert sich die alltägliche Volkskletterei ein wenig.
Mal ehrlich: Auch ein mäßig fitter Niederländer mit fortgeschrittener Adipositas darf halbwegs sicher sein, zum Gipfel gehievt zu werden, wenn er zwei Bergführer-Tagessätze von je 600 Franken berappt und die Nacht im animalischen Dunst der Hörnlihütte überlebt hat. Nur umkehren wollen darf er nicht.
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