Nachts allein im Schloss Bojnice Tränen des Grafen
Der Mann hält einen riesigen Schlüsselbund in der Hand. "Sie dürfen also bei uns im Schloss über Nacht bleiben", sagt er und blickt skeptisch. Es ist sein Beruf, Fremden gegenüber misstrauisch zu sein. Er ist der Nachtwächter im Schloss von Bojnice, der größten Touristenattraktion der Slowakei. 200.000 Besucher kommen jährlich. Hochzeiten können hier gefeiert werden, übernachten dürfe aber niemand, "zu gefährlich", sagt der wortkarge Mann, bevor er sich in mit seiner Thermoskanne mit Kaffee in das Kabuff mit den Überwachungsmonitoren verzieht. Doch eines noch: "Laufen Sie nachts nicht im Schloss herum, ich kann Sie sehen. Und sollte etwas passieren, die Polizei ist in fünf Minuten da. Gute Nacht."
Ich sitze im Ostflügel des Schlosses, im "Goldenen Salon". Die goldenen Stühle, reich verzierten Tische und Spiegel stammen alle aus der Rokoko-Zeit. Jedes Stück ein Original. Nebenan schließt sich der "Blaue Barocksalon" an, dann das "Renaissance-Schlafzimmer". Für die Nacht habe ich sieben Räume und zwei Badezimmer für mich alleine. Einst hatten hier die Bediensteten geschlafen, Mitte der neunziger Jahre war dieser Teil des Schlosses für einen Besuch von Prinz Charles und Lady Diana aufwendig umgebaut worden. Einige Millionen slowakische Kronen hatte das gekostet. Gekommen war das Prinzenpaar dann aber doch nicht. Zu viel Romantik für zwei Menschen, die kurz vor ihrer Trennung standen.
Es ist kühl, die dicken Burgmauern lassen tagsüber nicht viel Wärme durch. Viele, die hier arbeiten, sind ständig erkältet. Eine junge Frau schaut mich unentwegt an. Sie hängt an der Wand und ist bleich wie der Tod. Kein schönes Gemälde. Ich frage mich, wer sie war, ob sie hier gelebt hat. Doch keiner ist mehr da, der mir antworten könnte. Eine große schwere Stille hat sich über Bojnice gelegt, das mit seinen Zuckerbäckertürmchen den französischen Prunkbauten der Loire nachempfunden ist und mit seinem Kitsch so sehr an die Disney-Parks erinnert. Viele Märchenfilme sind hier gedreht worden. Gerade liegen wieder drei neue Anfragen für Drehgenehmigungen auf dem Schreibtisch des Direktors.
Verzweiflungssprung vom Turm
Ob ich keine Angst hätte, hatte mich Erik Klian, der Bucharchivar des Schlosses, gefragt und dabei sein Gesicht verzogen. Den ganzen Tag über hatte er mir Legende um Legende, Schauergeschichte um Schauergeschichte erzählt, die man seit Jahrhunderten von den einstigen Bewohnern berichtet.
Von der Schlossherrin etwa, die von ihrem eifersüchtigen Ehemann in den Selbstmord getrieben wurde. Mit ihrem Kind im Arm soll sie sich vom höchsten der Türme gestürzt haben und nun in manchen Nächten durch das Schloss laufen. "Legenden sind dafür da, dass man sie erzählt", hatte der Bucharchivar gesagt, "haben Sie wirklich keine Angst?" "Angst? Nein, wovor denn?", hatte ich gesagt. "Vielleicht vor der Stille, Sie werden ja ganz alleine sein."
Nun weiß ich, was er gemeint haben könnte. Die Kirchenglocke von Bojnice schlägt elfmal. Es muss an der Stille liegen, dass die wenigen Geräusche, die es noch zu hören gibt, nun eine neue Bedeutung bekommen. So wie der Tag in Bojnice den Touristen gehört, gehört die Nacht den Dohlen. Zu Hunderten nisten sie zwischen den Zinnen und unter den Dächern des Schlosses und kreischen wie rostige Türscharniere. Die alten Holzdielen knacken und ächzen, dass man glaubt ganz deutlich Schritte zu hören. Im Schlosshof pfeift der Wind, dass es sich wie ein Lied aus der Hölle anhört.
Es muss an der Stille liegen, dass ich nach nur kurzer Zeit glaube, etwas tun zu müssen. Ich rede laut mit mir selbst, gehe in alle Zimmer, um das Licht anzuschalten. Alles in Ordnung. Ich betrete die Taschenlampe in der Hand einen langen Flur. Links und rechts Türen. Wie viele Zimmer das Schloss tatsächlich hat, weiß niemand so genau. Man hat sie nie gezählt. 300 schätzt man. Der Gang ist breit, sicher sechs Meter hoch. An den Wänden hängen Gemälde, Hirschgeweihe und uralte Waffen. Einst ritten hier die Adligen auf Pferden hindurch in den Schlosshof. Nun tanzen die Schatten knochiger Äste im fahlen Mondlicht auf den grauen Burgmauern und sehen aus wie Arme, die nach etwas greifen. Die Schatten suchen das Licht. Ich dagegen weiß nicht, wonach ich suche.
Tränen aus dem Sarkophag
Ich stehe im Hof, vor dem abgesperrten Eingang zur Familiengruft des letzten Besitzers des Schlosses. Fast auf den Tag vor 100 Jahren genau ist Graf Ján Franz Pálffy gestorben und in einem Sarkophag aus rotem Marmor dort unten beigesetzt worden. Vor einigen Jahren tropfte aus dem Sarkophag eine seltsame Flüssigkeit. Niemand konnte dies erklären. Wissenschaftler kamen, untersuchten und blieben ratlos. Aus Sicherheitsgründen ließ der Direktor die Gruft für Besucher schließen, und slowakische Zeitungen schrieben von den "Tränen des Grafen", der nicht glücklich über den Umgang mit seinem Erbe war. Das Schloss war um eine Attraktion reicher.
Erneut schlägt die Glocke zwölfmal. Zur falschen Zeit am falschen Ort, denke ich, noch immer vor der Gruft. Filme wie "The Fog Nebel des Grauens" wirken in diesem Moment besonders nach. Nun ist es auch nicht mehr wichtig, ob die Geschichten, die mir Klian erzählt hat, ausgedacht sind, denn nun klingen sie wie die Wahrheit. Wie die Geschichte der "weißen Frau" Zuzana Podhradcska, die im 15. Jahrhundert vom damaligen Schlossverwalter entführt wurde, wenige Tage später in Bojnice starb und in den Mauern der Burg begraben sein soll. Nacht für Nacht, so ist es überliefert, soll auch sie in einem weißen Gewand durch das Schloss wandeln.
Und dann wäre da ja noch die Sache mit dem Fußabdruck einer Frau, den Arbeiter erst vor wenigen Wochen in frischem Zement gefunden haben. Den könne man nicht wegdiskutieren, hatte der Bucharchivar gesagt und ihn mir in einem entlegenen Winkel des Schlosses gezeigt ein Abdruck mit sechs Zehen.
Nacht der Legenden
Mein Magen fühlt sich an, als würde sich ein spitzer Finger hineinbohren. Ich drehe um, verlasse den Hof und bin wieder im Gang. Ganz am Ende sehe ich Licht, eine Tür steht offen. Hatte ich sie nicht zugemacht? Ich weiß es nicht mehr, will nur zurück in eines meiner sieben Zimmer. Ich schiebe die schwere Eichentür zu und lausche. Nichts. Ich gucke in den Spiegel, gehe noch einmal durch alle Räume. Ich warte, dass etwas passiert. Stunde um Stunde. Doch es passiert nichts. Keine weiße Frau. Nur die Frau an der Wand schaut mich mich unentwegt an. Erst als der Morgen den Dingen wieder Konturen verleiht, der Frühnebel die Hügel und Wiesen in weiße Laken hüllt, nicke ich in meinem Bett kurz ein.
Wieder die Kirchenglocke. Sechs Schläge. Der Nachtwächter packt seine leere Thermoskanne ein, zieht seine Jacke über und geht. In drei Stunden werden die ersten Besucher vor dem Tor stehen, die Führungen durch das Schloss werden beginnen, Fotoapparate werden klicken. Der Tag in Bojnice wird wieder den Touristen gehören, die Nacht aber, das weiß ich jetzt, wird für immer den Legenden bleiben.