
Bildserie über Nacktwanderer "Sie wissen, dass es blöd aussieht"


Roshan Adhihetty, 1990 in Lausanne geboren, ist ein Schweizer Fotograf und hat bereits mehrere Schweizer Fotopreise gewonnen. Den Swiss Photo Award 2016 in der Kategorie "Reportage" für seine Nacktwanderer-Serie bekam er im Februar wieder aberkannt, da er einen Mann im Hintergrund wegretuschiert hatte. Könne er verstehen, sagt Adhihetty. Er lebt in Zürich.
SPIEGEL ONLINE: Herr Adhihetty, zwei Jahre lang haben Sie Nacktwanderer mit Ihrer Kamera begleitet. Gleich vorweg: auch selbst nackt?
Roshan Adhihetty: Das war die Bedingung, dass ich überhaupt mit durfte. Aber das hätte ich sowieso gemacht - ich wäre mir sonst wie ein Voyeur vorgekommen. Für die Fotos war es wichtig, Teil dieser Gruppen zu sein. Mittlerweile war ich auf 34 Wanderungen dabei.
SPIEGEL ONLINE: Was ist der Reiz? Nacktbaden ist ja naheliegender: Um ins Wasser zu gehen, zieht man sich nun mal aus.
Adhihetty: Es geht ums Naturerlebnis. Man spürt alles, Sonne, Wind, Schweiß, Äste. Es gibt keine Kleidung, die stört. Bei 20 Prozent der Nacktwanderer spielt der Abenteuerfaktor eine Rolle, ein gewisses Rebellentum. Sie wollen aus der Gesellschaft ausbrechen. Darunter viele ältere Herren, die nach der Pensionierung sagen: Jetzt mit 65 mache ich, was ich will.
SPIEGEL ONLINE: In der Tat sind auf den Bildern auffällig viele Männer. Weil die einverstanden waren, dass ein Fotograf mitkommt?
Adhihetty: Ich vermute, der gesellschaftliche Druck auf den weiblichen Körper ist immer noch größer. Ein Mann mit 50, der einen Bauch hat, der hat halt einfach einen Bauch. Bei einer Frau mit 50 heißt es da eher: Das geht doch nicht. Im Zuge dieser Erfahrungen hat sich mein Verhältnis zur Natürlichkeit sehr verändert. Ich bin toleranter geworden. Mir wurde bewusst, wie einseitig meine Vorstellung von einem "Ideal" war.
SPIEGEL ONLINE: Wenn das ein Lernprozess war: Wie kamen Sie auf das Thema?
Adhihetty: Ich bin eher prüde aufgewachsen, in der Schweiz ist Freikörperkultur nicht so üblich. Mit Nudisten hatte ich nie zu tun, ich hatte das Gefühl, das sind alles Perverse. Wenn man das nicht kennt, denkt man, das muss etwas mit Sex zu tun haben. Bis ich an einem FKK-Strand auf Korsika landete.
SPIEGEL ONLINE: Was passierte?
Adhihetty: Drei Tage lang habe ich mich geweigert, mich auszuziehen, hatte Mühe, die anderen anzuschauen. Als ich mich dann traute, fiel es mir wie Schuppen von den Augen. Es war sehr berührend. Es herrschte eine paradiesische Stimmung, da waren Alte, Junge, viele verschiedene Körper. Das hatte überhaupt nichts Anrüchiges. Mir wurde bewusst, dass ich nie einen älteren nackten Mann gesehen hatte - die sind im Fernsehen und der Werbung nun mal nicht präsent.
Preisabfragezeitpunkt
23.01.2021 03.52 Uhr
Keine Gewähr
SPIEGEL ONLINE: Warum dann die Nacktwanderer - statt der Badenden?
Adhihetty: Fotos aus Nudistencamps kennt man. Bei den Nacktwanderern entdeckte ich hingegen eine andere Ebene: Sie befinden sich nicht mehr am idyllischen Strand, sondern mitten in einem Abenteuer. Doch so sehr sie versuchen mögen, zurück zu einem ursprünglichen Zustand zu kommen: Manche zivilisatorische Errungenschaften werden sie nicht los, sie tragen Brille, Rucksack und Schuhe. Alles kultivierte Leute, die von Goethe und Hesse erzählen können, die auch schon nackt durch die Natur gingen. Das Schöne: Viele können über sich selbst lachen, sie wissen, dass es blöd aussieht.
SPIEGEL ONLINE: Wie haben Sie sich vorbereitet?
Adhihetty: Zunächst recherchierte ich, wie nackte Figuren in der Kunstgeschichte dargestellt werden: als Nymphe, Satyr - sie sind überall. Die pastoralen Sujets wiederholen sich: Da ist der Blick in die Ferne, das Bad im Fluss, das Picknick im Grünen. So wusste ich bei solchen Momenten unterwegs immer: Jetzt musst du draufhalten. Oft fühlte ich mich an Caspar David Friedrich erinnert.
SPIEGEL ONLINE: Inwiefern?
Adhihetty: Er hat sich intensiv mit der Figur des Wanderers auseinandergesetzt: Bei ihm ist er ein Symbol für Sehnsucht und Selbstverwirklichung. Und eben das repräsentiert das Nacktwandern auch: Es ist ein Ausbruch. Und zugleich setzen die Wanderer dem Romantischen, Naturbelassenen etwas entgegen, mit ihren neonfarbenen Turnschuhen, der ganzen Ausrüstung.
SPIEGEL ONLINE: Wie schwierig war es, in der Schweiz Nacktwanderer zu finden?
Adhihetty: Schwierig. Es gibt nicht so viele, die Schweiz ist ja nicht so groß. Und die Schweizer scheinen eher Einzelgänger: Während ich hier mit zwei oder drei unterwegs war, waren wir auf Wanderungen in Deutschland auch schon mal 90 in der Gruppe.
SPIEGEL ONLINE: Dabei ist es als Teil einer Masse sicher leichter.
Adhihetty: Eine Gruppe zeigt auch, dass das keine Spinner sind, sondern Sportler. Einer sagte einmal: Eine Frau wird weniger Angst haben, wenn sie 20 Nackten im Wald begegnet als nur einem.
SPIEGEL ONLINE: Gibt es weitere Unterschiede?
Adhihetty: In Deutschland ist man toleranter, gerade in Ostdeutschland. Wir sind vielen Textilwanderern begegnet, die sich auf einen Schwatz einließen.
SPIEGEL ONLINE: Wer es auch versuchen will: Welche Routen eignen sich?
Adhihetty: Es gibt sogar offizielle Nacktwanderwege. Aber sie werden ungern genutzt: Man will ja nicht jede Woche die gleiche Route laufen. Zu empfehlen sind Wege ohne dichten Heckenwuchs, das gibt nur Kratzer. Super sind Aufstiege: Auf dem Gipfel zu stehen, oben den Schweiß und den Wind auf der Haut zu spüren, ist ein wunderbares Gefühl. Vor allem aber sollte man Strecken wählen, die nicht hochfrequentiert sind, gerne wochentags. Einer der Organisatoren sagt vorher der örtlichen Polizei Bescheid, dass wir unterwegs sind, falls Anrufe eingehen sollten. Und er schickt vorab ein PDF an alle Wanderer mit Tipps: Man soll Notbekleidung dabei haben - die wird angezogen, wenn wir an Gaststätten vorbeikommen. Aus Respekt.
SPIEGEL ONLINE: Machen Sie weiter - nackt in Wanderschuhen?
Adhihetty: Ich war schon immer ein Wandervogel. Ich gehe normalerweise zwei Wochen am Stück durch die Alpen, mit Kocher und Zelt. Offen gestanden: Die Touren mit den Nacktwanderern waren eher Spaziergänge für mich. War aber auch besser so - ich hatte ja mehr als zehn Kilogramm Fotoausrüstung zu schleppen. Ich würde wohl gerne auch alleine nackt wandern. Aber dazu ist meine Schamgrenze zu hoch.
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Blick in die Ferne: Roshan Adhihetty ist Schweizer und hat nackt wandernde Menschen in seiner Heimat und in Deutschland begleitet und fotografiert.
Mitwandern ohne Klamotten war Bedingung - sonst hätte Adhihetty die Nacktwanderer nicht fotografieren dürfen.
"Bei 20 Prozent der Nacktwanderer spielt der Abenteuerfaktor eine Rolle, ein gewisses Rebellentum", sagt der Schweizer Fotograf.
"Es herrschte eine paradiesische Stimmung", sagte Adhihetty, "da waren Alte, Junge, viele verschiedene Körper. Das hatte überhaupt nichts Anrüchiges."
Ältere nackte Männer seien in Fernsehen und Werbung nicht präsent, sagt der Fotograf.
Anfangs fiel es dem 27-Jährigen schwer, sich für das Wandern auszuziehen. Dann aber fand er die Vielfalt des menschlichen Körpers berührend.
Roshan Adhihetty hat ein Buch mit seinen Fotos veröffentlicht: "Nacktwanderer". Verlag Sturm und Drang: 96 Seiten; 49 Franken.
Roshan Adhihetty: Für dieses Fotoprojekt hatte er schon den Swiss Photo Award 2016 in der Kategorie "Reportage" bekommen. Als er der Jury erzählte, dass er einen Mann im Hintergrund wegretuschiert hatte, wurde ihm der Preis wieder aberkannt. Könne er verstehen, sagt Adhihetty.
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