
Weihnachten am Nordkap Stille Nacht mit Polarlicht
Eine halbe Flugstunde vor der Landung geht die Sonne hinter dem Kabinenfenster unter, wir werden sie für eine Woche nicht mehr sehen. Wir haben den Polarkreis überflogen und landen bald in Alta im äußersten Norden Norwegens. Unser Ziel: das verschneite Nordkap.
Alta ist eine moderne Stadt, zwei gute Hotels und ein paar Restaurants stehen zur Auswahl. Wichtiger für meine Frau Elly und mich sind die vier Autovermietungen, die wir vom Flughafen aus abtelefonieren. Unsere Bedingung: Unser Gefährt muss nicht nur Winterreifen, sondern auch Spikes haben - damit wir die vereisten Schneefahrbahnen durch die Finnmark nach Skaidi und weiter entlang der Küste gen Norden bewältigen können.
Ein Tunnel bringt uns auf die Insel Magerøya, auf der das Nordkap liegt. Ein Versuch, es am ersten Abend zu erreichen, scheitert 13 Kilometer davor an einer Schranke. Erst am nächsten Tag um 11 Uhr soll ein Konvoi durch die unberührte Schneelandschaft fahren dürfen, kündigt ein Schild an. Am nächsten Vormittag warten wir hier allein. Der "Konvoi" besteht nur aus einem Schneepflug, der vor uns fährt, und einem Sicherheitsauto, das uns folgt.
Nach 15 Minuten Fahrt haben wir das hell erleuchtete Besucherzentrum am 71. Breitengrad erreicht und laufen zur stilisierten Erdkugel, die auf dem Hochplateau weit über dem Eismeer thront. Der Anblick ist viel schöner, als alle Fotos zeigen, die ich von diesem Ort gesehen habe. Die Skulptur ist schwach angeleuchtet und scheint über dem Meer zu schweben.
Vom Arktischen Ozean her ziehen Schneeschauer heran, die sich im mittäglichen Dämmerungslicht gegen dunkle Haufenwolken abheben. In anderen Teilen der Arktis ist es in diesen Breiten gerade unter minus 40 Grad Celsius kalt. Hier an den Küsten Norwegens wirkt der Golfstrom wie eine gigantische Warmwasserheizung, und das Thermometer zeigt lediglich minus sieben Grad.
Flucht auf Hurtigrutenschiff
Eine Stunde später ist es mit der Ruhe am Nordkap vorbei. Mit einem zweiten Konvoi sind drei Busse angekommen, die 150 Passagiere der täglich in Honningsvag anlegenden Hurtigruten-Schiffe zum Nordkap gebracht haben. Deswegen hat das Besucherzentrum auch im Winter geöffnet. Im letzten Dämmerungslicht erkunden wir auf den wenigen geräumten Straßen die Insel.
Wie hell es in der Polarnacht am Nordkap in der Mittagszeit wird, konnte ich mir vor dieser Reise nicht so recht vorstellen. Tatsächlich wird es zwischen Weihnachten und Neujahr am Nordkap nur zwischen 9 und 15 Uhr etwas dämmerig, die übrige Zeit ist es stockdunkel.
Wir verbringen den Abend in Honningsvag und besorgen uns Tickets für die Hurtigruten-Passage nach Kirkenes. Da wir nicht für winterliche Zeltübernachtungen ausgerüstet sind und Privatpensionen und unser Hotel über Weihnachten schließen, bleibt uns nur die Flucht auf eines der täglich verkehrenden Linienschiffe.
So feiern wir Heiligabend bei norwegischen Weihnachtsliedern und -buffet im Schiffsrestaurant der "Polarlys". Das Kreuzfahrtschiff ist nicht einmal zu einem Viertel besetzt. Die meiste Zeit stehen wir mit unseren Kameras auf dem Achterdeck und warten auf Polarlichter.
Bereits eine Stunde nach Auslaufen flackern große und sehr aktive Polarlichter am Himmel. Die Kamera macht ihr spektakuläres Grün und die zackigen Formen erst richtig sichtbar. Bevor Wolken die Polarlichter verdecken, mache ich fast 200 Bilder mit 6400 ASA und wenigen Sekunden Belichtungszeit. Am frühen Abend macht die "Polarlys" in Kjollefjord fest. Statt der üblichen 15 Minuten liegt das Schiff 24 Stunden an der Kaimauer: Die Besatzung hat Weihnachtspause.
Wilde Fahrt auf dem Schneemobil
Als wir bei einem Spaziergang ein Holzhaus bewundern, lädt uns dessen Besitzer Kjell zum Weihnachtsabend ein. Wir verbringen ihn zusammen mit seinen russischen Freunden bei Wodka und Krimsekt und kehren weit nach Mitternacht auf das Schiff zurück. Für den nächsten Vormittag sind wir zu einem Ausflug zu Kjells Datscha verabredet.
Kjell und Rashid holen uns direkt an der Schiffsgangway ab. Ohne lange Erklärungen bekommen Elly und ich eins der beiden Schneemobile überlassen. Vom Ortsrand aus führt die Route sofort in die Berge hinein. Zum Glück habe ich in Sibirien viel Erfahrung auf Schneemobilen gesammelt, denn die Strecke ist alles andere als einfach.
Nach einer Stunde wilder Fahrt erreichen wir ein Kunstwerk, das Kjell exakt am 71. Breitengrad errichtet hat. Nicht weit entfernt steht seine Datscha in einer einsamen Bucht. Elly packt selbst gebackenes Apfelbrot und Schnaps aus ihrer badischen Heimat aus, und wir feiern den ersten Weihnachtsfeiertag. Gerade noch rechtzeitig sind wir zurück auf der "Polarlys", die pünktlich um 17.15 Uhr Richtung Kirkenes ablegt. Dort erwarten uns dann doch minus 21 Grad.

Michael Martin, 1963 geboren, ist Diplom-Geograf und renommierter Wüstenfotograf. Der Münchner hat seit seinem 17. Lebensjahr 150 Wüstenreisen unternommen und darüber mehr als 20 Bücher veröffentlicht, darunter auch das in sechs Sprachen erschienene "Die Wüsten der Erde".
Martins neues Projekt: ein Vergleich zwischen Eis- und Trockenwüsten. Dafür besucht er die wichtigsten Eiswüsten der Nord- und Südhalbkugel und ihre Bewohner. Er wird mit Hunde- und Motorschlitten, per Schiff und Flugzeug und - wo immer möglich - mit dem Motorrad unterwegs sein.
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