
Per Rennrad auf den Mont Ventoux: Trampeln, schwitzen, feiern
Per Rad auf den Mont Ventoux Eroberung des Erbarmungslosen
Bei Kilometer zwölf wird's richtig schlimm. Die Straße hat zehn Prozent Steigung, die Sonne brennt auf den Asphalt. Seit einer Viertelstunde fahre ich gemeinsam mit dem Mann im grünen Trikot. Mal führt er, mal führe ich. Wir kennen uns nicht, wir haben uns hier an diesem Berg getroffen. Er ist keiner von den durchtrainierten Radrennfahrern, ganz im Gegenteil: Sein Trikot spannt an der Hüfte.
Eine Kurve. Ich kann das Tempo nicht mehr halten. Will einen Gang zurückschalten - aber ich fahre schon auf dem letzten Ritzel. Auch im Wiegetritt geht nichts mehr, ich muss abreißen lassen. Und das macht die Niederlage richtig bitter: Der Kerl, der mir jetzt sein Hinterrad zeigt, fährt nicht nur mit Hüftgold. Er kommt auch noch aus Holland. Wo es nur Hügel gibt. Ausgerechnet der hängt mich am Berg der Berge ab.
Diesen Sommer feiert die Tour de France mit großem Spektakel ihr 100. Jubiläum. Am 14. Juli, dem französischen Nationalfeiertag, führt die prestigeträchtigste Etappe auf den Mont Ventoux. Auf diesen von Mythen verklärten Berg will ich jetzt mit meinem Rennrad. Um zu erfahren, wie sich das anfühlt.
Schon bei der Anreise mit dem Auto stellte sich ein mulmiges Gefühl ein: Da ragt ein gewaltiger Klotz aus der Provence empor. Ein Solitär in einer flachen Landschaft, der schon durch seine Masse bedrohlich wirkt. Weil es ringsum keine anderen Berge gibt, mildert nichts die schroffe Wucht dieses Riesen.
"Bon courage!"
In Bedoin steige ich aufs Rad. Der Anfang lässt sich freundlich an. Es geht durch Weinfelder, die Steigung beträgt keine fünf Prozent. In Sainte-Colombe, einem verschlafenen Weiler, steht ein Franzose im Schatten seines Häuschens und ruft fröhlich: "Bon courage!" 21 Kilometer wird es bergauf gehen, bis zum Gipfel kommt kein Meter Abfahrt. Ich sehe nur bis zur nächsten Kurve. Vielleicht wird's dahinter flach?
Jeweils nach einem Kilometer ist ein weißer Strich über die Straße gezogen. Das ist als Service für die vielen Hobbyradfahrer gedacht, die sich an diesen Berg wagen. Aber die Linien sind nicht wirklich ermutigend. Sie zeigen unerbittlich, wie lang ein Kilometer ist. Und wie lang ich für diese Strecke brauche. Und hinter keiner Kurve wird's flach.
Schon im Mittelalter hat dieses Monstrum von Berg die Menschen fasziniert. Der italienische Humanist Francesco Petrarca (1304 bis 1374) fasste 1336 einen kühnen Entschluss: Er wollte diesen Berg besteigen. Nicht weil er auf dem Weg von A nach B dieses natürliche Hindernis überwinden musste. Sondern aus reinem Selbstzweck, um des Erlebnisses willen.
"Allein vom Drang beseelt, diesen außergewöhnlich hohen Ort zu sehen", so schreibt er in seinem dünnen Buch "Die Besteigung des Mont Ventoux". Manche Passagen lesen sich wie eine Rechtfertigung: Eigentlich macht man das nicht: ohne Sinn und höheren Zweck auf einen Gipfel zu steigen.
Mit dieser Bergtour setzte Petrarca einen Meilenstein der europäischen Geschichte. Er überschritt die Schwelle zu einem neuen Weltgefühl: Man muss die Erde nicht als Jammertal sehen - man kann sich an ihren Landschaften begeistern. Stellenweise liest sich Petrarca, als wolle er einem Radfahrer Mut machen, der auf der letzten Rille unterwegs ist: "Rastlose Müh besiegt alles."
Kein Baum, kein Strauch, nur Geröll
Nach 16 Kilometern habe ich 1100 Höhenmeter geschafft. Das sind gerade mal zwei Drittel, bis zum Gipfel kommen weitere 500. Ein kleiner Skilift taucht auf, der im Sommer irgendwie deplatziert wirkt. Am Restaurant Chalet-Reynard auf 1440 Höhenmeter lehnen Rennräder und Mountainbikes, hier gibt's was zu trinken. Eine junge Frau sitzt schweißgebadet auf dem Asphalt und dehnt gequält ihr rechtes Bein.
Jetzt fahre ich auf dem Mond. Denn so karg kann ja wohl kein Berg sein. Es gibt keine Bäume mehr, keine Sträucher und kein Gras. Kein Halm sprießt aus dem Geröll. Wenn jetzt der Wind von vorn bläst, bin ich erledigt.
Am Straßenrand stehen Stangen, für den Schneepflug im Winter. Der hat ja sonst nichts, woran er sich orientieren kann. Weit vorn, ganz oben, ragt ein weißer Turm mit einer gestreiften Antenne in den Himmel. Wie weit ist es noch bis dort? Diese öde Flanke bietet keinen Maßstab, um die Entfernung zu schätzen. Noch fünf Kilometer, sagt der Tacho.
Zwei Kilometer vor dem Gipfel taucht rechts ein grauer Stein auf. Er zeigt die gebückte Silhouette eines Radfahrers und erinnert an Tom Simpson. Dieser englische Rennfahrer kippte hier vom Rad, am 13. Juli 1967, auf der 13. Etappe der Tour de France. 40 Minuten lang versuchte der Rennarzt, ihn wiederzubeleben. Vergeblich.
In Simpsons Trikottaschen fanden sich Ampullen mit dem Aufputschmittel Onidrin, das die Symptome von Hunger und Müdigkeit unterdrückt. Die Obduktion ergab: Simpson hatte Amphetamine geschluckt und Alkohol im Blut. Unter Radfahrern ist es Brauch geworden, am Gedenkstein für einen der berühmtesten Dopingtoten etwas abzulegen: eine Trinkflasche, abgefahrene Bremsgummis, einen geplatzten Reifen. Ein Mann mit grauem Haar klaubt einen Stein aus der Mondlandschaft und legt ihn andächtig auf die Stufe am Denkmal.
Wie ein weicher Kuss
Der Turm auf dem Gipfel ist hässlich. Die Farbe blättert, die Fenster sind schmal wie Schießscharten. Aber die Aussicht ist atemberaubend. Kein anderer Berg verstellt das 360-Grad-Panorama: Im Osten leuchten verschneite Alpengipfel in der Sonne, im Süden glitzert blau das Mittelmeer. Im Westen ist das Rhonetal zu erkennen. Dort unten im Dunst, das muss Avignon sein.
Man kann natürlich mit dem Auto hier hochfahren. Aber wer die bequeme Variante gewählt hat, erlebt den Blick von diesem Gipfel nicht so intensiv, da verwette ich mein Rennrad.
Und noch was: Selbst wenn einer im Porsche am Mont Ventoux unterwegs ist - er wird nicht so viel Spaß bei der Abfahrt haben. Ich ziehe meine Windjacke über, dann kommen 20 Kilometer reiner Genuss, hinunter nach Malaucène. Der Asphalt ist perfekt, die Kurven haben einen eleganten Radius. Ich spiele mit der Balance und träume durch die Landschaft.
An den meisten Alpenpässen habe ich bei der Abfahrt elend gefroren. Am Mont Ventoux ist das anders. Der Wind streicht warm um die Beine. Hier muss ich nicht die Zähne zusammenbeißen. Die Luft der Provence fühlt sich an wie ein weicher Kuss.
Auf einer langen Geraden habe ich Zeit, auf den Tacho zu gucken: 78 km/h. Ich weiß, auch da sind andere schneller. Aber das tut nicht weh.