Piz Bernina in der Schweiz Im Festsaal der Alpen

Rast am Piz Roseg: Traum eines jeden Bergsportbegeisterten
Foto: Ralf GantzhornSicher, Wintersportorte gibt es in den Alpen zu Hunderten, aber es gibt nur wenige, die das Glück haben, zu Füßen von weltberühmten Massiven und mythenumrankten Felsgiganten zu liegen. Da wären zum Beispiel Chamonix und der Mont Blanc, Grindelwald und der Eiger, Zermatt und das Matterhorn - und natürlich Pontresina und der Piz Bernina.
Und wenn man von einer der Hütten im Val Roseg den Blick über das Panorama der Bernina-/Roseggruppe schweifen lässt oder von der Ostseite, vielleicht von der Diavolezza-Bergstation, auf Piz Palü und Piz Bernina schaut, dann wird einem klar, dass die etwas abgegriffene Metapher vom "Festsaal der Alpen" keine Übertreibung ist. Es ist nicht nur der von vielen Bergsteigern als schönster Firngrat der Alpen bezeichnete Biancograt am Piz Bernina, sondern es sind auch die formschönen Nachbar-Gipfel und die wilde Gletscherlandschaft, die die Berninagruppe zum Stoff machen, aus dem die Träume eines jeden Bergsportbegeisterten sind.
Seit Mitte des 19. Jahrhunderts ist der heute 2000 Seelen zählende Ort Pontresina ein äußerst komfortables "Basislager" für Ski-, Wander- und Kletterunternehmungen in der Berninagruppe. Seit der einheimische Forstinspektor Johann Coaz im Jahre 1850 mit zwei Gefährten den Piz Bernina in einer zwanzigstündigen Unternehmung bezwang, ist Pontresina mehr und mehr zu einem Bergsteigerort geworden.
Um die Gletscherwelt der Bernina genießen zu können, braucht man aber beileibe kein Leistungssportler zu sein. Ein bisschen Kondition, gute Stiefel und kundige Führung genügen, um sich auf oder zumindest in die Nähe des Morteratsch-, Tschierva- oder Roseggletschers zu wagen. Aus der heimeligen Atmosphäre des Bergdorfes mitten in die wildeste Hochgebirgswelt sind es nur zwei bis drei Stunden auf Schusters Rappen und sowohl auf der West- wie auf der Ostseite des Piz Bernina gibt es bewirtschaftete Berghütten, die als willkommener Endpunkt für Wanderungen und auch als komfortabler Ausgangspunkt für bergsteigerische Unternehmungen bestens geeignet sind.
Von Urs Tinner, Leiter der Schweizer Bergsteigerschule Pontresina hören wir von Bergsteigerheroen wie Joe Brown, Dougal Haston und anderen, die in Pontresina vorbeigeschaut haben und die einen Humor und eine Selbstironie im Umgang mit ihrem Sport, ihrer Leidenschaft an den Tag legten, wie sie heute selten geworden sei. Wir hören von einer Tendenz, die sich vom Gruppenerlebnis abwendet hin zu einer Art des Bergsteigens, bei der sich einzelne Gäste auf ihren Wunschgipfel führen lassen, um ihn "abzuhaken". In den Worten des Bergführers Urs Tinner ist eine gewisse Wehmut nicht zu überhören. Er sieht "seine" Berge nicht nur unter sportlichen Gesichtspunkten, nicht nur als bloßes Sportgerät für moderne Freizeitaktivitäten. Mit dem Segen dieses professionellen Bergliebhabers machen wir uns selbst auf den Weg, um den Biancograt am Piz Bernina und die Nordostwand des Piz Roseg anzugehen.
Die Tschiervahütte, die in 2573 Metern Höhe an der Flanke des Piz Tschierva klebt, ist idealer Stützpunkt für unsere beiden Vorhaben. Die Route durch die Nordostwand des Piz Roseg, 3937 Meter, birgt ein alpinhistorisches Kuriosum: So unglaublich es einem vorkommen mag, wenn man vor diesem 700 Meter hohen und bis zu 60 Grad steilen Eisschild steht, die Wand wurde schon im Sommer 1890 ohne jegliche Steigeisen erstmals durchstiegen. Man vergisst als noch nicht sooo alter Bergsteiger ziemlich schnell, dass Eisäxte und Frontalzackentechnik erst knapp 50 Jahre alt sind. Und dass zuvor jede Eispassage durch das mühselige Schlagen von Stufen überwunden werden musste.
Eine Route, die etwas östlicher und damit direkter auf den Hauptgipfel zu verläuft, wurde 1958 von dem bekannten Bergfilmer, Autor und K2-Bezwinger Kurt Diemberger eröffnet. Noch weiter östlich ziehen sich weitere Routen - unter anderem das berüchtigte Marinelli-Couloir - durch den felsigeren Teil der Wand, von deren Begehung inzwischen aber dringend abgeraten wird, da es sich hier, wie im Flaig-Führer so eindringlich-lakonisch beschrieben, um "Kanonenrohre tödlichen Steinschlages" handelt.

Berninagruppe in der Schweiz: Festsaal der Alpen
Wenn man bei Sonnenaufgang unter der Nordostwand steht, die selber noch im Schatten liegt, kommt man sich recht klein und zerbrechlich vor. Die riesige weiße Wand, nur im unteren Teil von zwei schmalen Felsriegeln durchbrochen, sieht in ihrer Flächigkeit und Weite ziemlich imposant aus. Bei schönstem Sonnenschein aber erweist sich die Route als konditionell anstrengend, doch wunderschöne Kletterei in festem Firn. Der Gipfelrundblick auf Bernina, Scerscen und das Eischaos des Tschiervagletschers sowie der Ausblick ins Veltlin dürften zu den schönsten in den Alpen gehören. Der Abstieg über den langen Rücken des Eselsgrats ist ebenfalls ein Genuss, der einem kurz vor der Abseilstelle in den Gletscherkessel noch einen wunderschönen Blick das Rosegtal hinaus beschert. Ein Bergtag, wie man ihn nur selten und nur an ganz speziellen Orten erleben kann.
Der Biancograt auf den Piz Bernina, 4049 Meter, das Kronjuwel der Berninagruppe und Traumziel fast eines jeden Bergsteigers, ist von einem ganz anderen Kaliber: Die Tour ist mit acht bis neun Stunden Gehzeit von der Tschiervahütte bis zum Rifugio Marco e Rosa in der Scharte zwischen Bernina und Crast' Agüzza von der Länge her anspruchsvoll. Zudem gilt es zu bedenken, dass man auf 2500 Metern Höhe startet, 1500 Höhenmeter überwinden muss, um auf dem Gipfel eines Viertausenders zu stehen und dann eine Nacht auf einer Hütte zubringen muss, die auf stolzen 3609 Metern Höhe liegt.
Der Biancograt ist immer noch trotz High-Tech-Ausrüstung und modernen Trainingsmethoden eine ernste alpine Unternehmung. Die Länge der Tour und die große Höhe machen hier natürlich auch das Wetter zu einem großen Thema. Wem es übrigens nur auf den Gipfel ankommt, der kann vom Rifugio Marco e Rosa aus kommend den Normalweg über den Spallagrat als Auf- und Abstieg wählen und muss hier nur mit ca. zwei Stunden und Schwierigkeiten nicht höher als II rechnen. Aber obwohl der Piz Bernina, und speziell die Route über den Biancograt, sich größter Beliebtheit erfreut und an den Wochenenden geradezu überlaufen ist, darf man nie vergessen, dass es sich um eine hochalpine Unternehmung handelt.
So durften wir am eigenen Leibe erfahren, wie es so ist, wenn ein Berg die Zähne zeigt. Wir hatten den Biancograt schon zur Hälfte hinter uns, als sich das ohnehin schon etwas graue Wetter immer schneller zuzog und der Wind sich zu einem Sturm auswuchs. Schon weiter von der Tschiervahütte entfernt als vom Rifugio Marco e Rosa auf der anderen Seite, kletterten wir weiter in den Sturm hinein. Während wir im heulenden Wind, dem waagerechten Schneetreiben und dem fliegenden Eis standen, bestens abgeschirmt durch Fleece, Goretex & Co, konnten wir uns des tiefen Respekts vor den Altvorderen nicht erwehren: Tweedjacken, Loden und Wollpullover waren alles, was diese wohl wirklich harten Kerle den tobenden Elementen entgegenzusetzen hatten. Oben auf dem Grat erwies sich die Kletterei wegen des Windes als mühsam und wegen der vereisten Felsen auch als ein wenig heikel.
Der spannendste Teil war jedoch, als wir nach dem Abseilen über den Spallagrat den Weg zum Rifugio Marco e Rosa in der Fuorcla Crast' Agüzza im nahezu totalen Whiteout finden mussten. Wenngleich Höhenmesser, Kompass und die zuverlässige Karte der Eidgenössischen Landestopographie nie wirkliche Zweifel über den korrekten Kurs aufkommen ließen, ist so ein "Blindflug mit Instrumenten" dennoch eine recht interessante Angelegenheit. Wenn man die Hütte schließlich gefunden hat, dann lässt es sich auf dem früher als etwas spartanisch verschrieenen Rifugio Marco e Rosa inzwischen gut aushalten, denn man hat einen schmucken Neubau neben das alte Häuschen gesetzt.
Als wir zwei Tage später schließlich über die Bellavistaterrasse, den Fortezzagrat und den Morteratschgletscher abstiegen und die Terrasse der Bovalhütte betraten, fragte uns ein Mitglied einer belgischen Wandergruppe, wie wir die zwei Tage Sturm denn da oben überlebt hätten. Wir erwiderten, der Wein und der Käse seien so gut gewesen, dass rein kulinarisch zu keinem Zeitpunkt Lebensgefahr bestanden hätte.
Ein paar Tage später trafen wir unten in Pontresina auch Bergführerchef Urs Tinner wieder. Als wir ihm von unserer kleinen Odyssee über den sturmumbrausten Biancograt erzählten, lachte er herzlich und sagte, er fände es schön, dass wir den Piz Bernina auf diese ungewöhnliche Art kennen gelernt hätten - als ernsthaften Berg eben.