

Leonie Wolf
SPIEGEL-Leserinnen und -Leser auf Reisen im Corona-Jahr »Die Espressokanne war mein einziger Luxus«
Sie werfen noch die notwendigsten Utensilien, ein bisschen frische Wäsche und drei Müsliriegel in den Rucksack oder die Satteltasche, schließen die Haustür ab – und dann sind sie für ein paar Tage oder Wochen weg. Wenn Aktivurlauber mit ihrem Rad, dem Kajak oder den Wanderstöcken losziehen, haben sie schon einen wichtigen Teil der Reise hinter sich, nämlich die Strecken- und Ausrüstungsplanung. Was dann kommt, ist Abenteuer.

Pedale, Paddel und ein Rucksack: So reisten SPIEGEL-Leserinnen und -Leser im Coronasommer
In einem Leseraufruf haben wir kürzlich nach Ihren Berichten von mehrtägigen oder gar mehrwöchigen Reiseerlebnissen im Corona-Sommer gefragt. Unter anderem Leonie Wolf hat geantwortet und von ihrem Fahrradtrip Richtung Norden berichtet. Hier erzählen sie und zwei weitere Leser von Outdoor-Träumen, die sie sich 2020 vor ihrer Haustür erfüllt haben.
Radtour durch Deutschland: die Nordsee? Kreisch!
»Nachdem ich im Sommer 2020 mein Mathestudium beendet hatte, wollte ich mit dem Fahrrad nach Griechenland. Doch Corona kam mir dazwischen, und so habe ich das Ziel geändert. Allein mit meinem Fahrrad, meinem Zelt, Campingkocher und zwei Ersatzunterhosen bin ich schließlich zwei Monate lang 2600 Kilometer kreuz und quer durch Deutschland gefahren. Gestartet bin ich in Karlsruhe, dann rüber nach Bayern – Nürnberg, Würzburg –, nach Norden Richtung Kassel, Hannover, Bremen, Bremerhaven, nach Cuxhaven die Nordsee entlang, übergesetzt nach Schleswig-Holstein und dann nach Kiel.
Warum diese Strecke? So wirr diese Routenplanung klingt, so war sie auch. Selten habe ich mir über mehr als die nächsten zwei Tage Gedanken gemacht. Geschlafen habe ich meistens irgendwo am Waldrand. Die schönsten Plätze habe ich an der Ostsee gefunden, am Strand unterhalb der Steilküste. Ich mag es, wenn ich keine Zeichen von Zivilisation sehe, keine Wege, keine Laternen – nur Natur. Überhaupt zieht es mich zum Wasser hin. Auch die vielen kleinen Seen zwischen Rostock und Berlin waren toll.

Pause mit Pilzen: Leonie Wolf bereitete sich ihr Essen auf einem Campingkocher zu
Foto: Leonie WolfKiel war von Anfang an mein Ziel. Es ist der Ort in Deutschland, der am weitesten weg ist von Karlsruhe und an dem ich noch Leute kenne. Etwa einmal die Woche bin ich bei Freund*innen oder auf einem Campingplatz untergekommen, um zu duschen, zu waschen und mal etwas anderes zu essen als Couscous oder Linsen. Kurz vor Kiel merkte ich jedoch, dass ich noch lange nicht genug hatte. Ich wollte weiterfahren, noch mehr Sonnenuntergänge sehen, in noch mehr Seen und Flüsse springen und einfach noch länger ohne Zeitdruck in den Tag hineinleben. Zur Wahrheit gehört auch, dass ich keine Lust hatte, Bewerbungen zu schreiben.
Ich bin also weiter die Ostsee entlanggefahren bis Rostock. Dann ging es Richtung Süden nach Berlin, und schließlich bin ich an meinem Geburtstag in Leipzig angekommen. Dort merkte ich plötzlich: Ich wollte mein Zelt nicht an noch einem See aufschlagen oder noch mal hundert Kilometer weiterfahren. In meinem Reisetagebuch steht als letzter Satz: ›Es ist genug – zumindest für den Moment.‹
Der schönste Moment: Nach ziemlich genau einem Monat auf dem Fahrrad bin ich kurz vor Cuxhaven den Deich hochgefahren und stand plötzlich an der Nordsee. Das war so verrückt, dass ich erst mal schreien musste. Mir ist da klar geworden, dass ich ganz allein, angetrieben nur von der Kraft meiner Beine, quer durch Deutschland und bis an die Küste gekommen war. Ein krasses Gefühl.
Schön in Erinnerung ist mir aber auch das Kaffeekochen jeden Morgen. Die Espressokanne war der einzige Luxusartikel, den ich dabeihatte, und – abgesehen von der Radhose – ist er der letzte, auf den ich verzichtet hätte. Jeden Morgen, während der Kaffee in der Kanne zu blubbern begann, langsam nach oben stieg und es anfing zu duften, habe ich mir überlegt, wo ich an dem Tag eigentlich hinfahren möchte.
Das Besondere an der Tour? Es war ein großartiges Erlebnis mit vielen kleinen Herausforderungen. Ein bisschen stolz bin ich schon auf mich: Zumindest kilometertechnisch hätte ich es fast nach Griechenland geschafft. Ich weiß, dass es in den nächsten Jahrzehnten vermutlich nicht so einfach wird, sich ein paar Monate Zeit zu nehmen, wie jetzt nach dem Studium. Aber es wird ganz sicher nicht meine letzte längere Fahrradtour gewesen sein!«
Leonie Wolf, 26, Karlsruhe
Wandern in Schweden: das Glück des Fjälls
»War es das Schmatzen der Schuhe, wenn ich mal wieder durch ein Moor laufen musste? Die tägliche Ration frisch gepflückter Blaubeeren zum Frühstücksmüsli? Oder waren es schlicht die raue Natur und der oft starke Wind, die diesen Trip im Sommer 2020 so besonders gemacht haben? Vermutlich war es all das zusammen. Anfang September war ich zwölf Tage auf dem Kungsleden, dem berühmten schwedischen Fernwanderweg, unterwegs. Gut 350 Kilometer waren es, die ich allein auf dem südlichen Teil des ›Königspfads‹, von Storlien bis nach Sälen, gewandert bin. Ich habe mich entschlossen, erst am Ende der Saison zu starten – weniger Menschen, weniger Mücken.
Warum diese Strecke? Ursprünglich wollte ich den GR 20 auf Korsika laufen. Wegen der Pandemie habe ich dann aber entschieden, in Schweden zu bleiben, wo ich seit sieben Jahren lebe. Zum einen wegen der einfachen Anfahrt – ich konnte mit dem Nachtzug an den Startpunkt reisen –, zum anderen, weil mich die Weite und die Einsamkeit des schwedischen Fjälls faszinieren. Die Baumgrenze der Region liegt bei unter 800 Höhenmetern, ich hatte diese tundraartige Landschaft bisher noch nie gesehen.

Wandern in Schweden – und kein Mensch in Sicht
Foto: Martin RatschStreckentechnisch ist der Kungsleden nicht anspruchsvoll. Er verläuft auf der zweiten Hälfte gelegentlich durch Moore – was nasse Füße garantiert – oder durch sehr felsige Gebiete, auf denen man eine gute Trittsicherheit haben sollte. Aber die Anstiege sind moderat. Man muss allerdings mangels Einkaufsmöglichkeiten eine erhebliche Menge an Essen mit sich führen. In meinem Rucksack befanden sich neben Lebensmitteln ein Gaskocher, Geschirr, Schlafsack, Zelt, Isomatte, Wechselklamotten, Handtuch und Wanderstöcke.
Außerdem ein Wasserfilter, da es in den wenigen bewirtschafteten Hütten unterwegs kein fließendes Wasser gibt – und auch keinen Strom, weshalb ich eine Powerbank dabeihatte. So konnte ich mein Handy laden, das mir aber nur zum Fotografieren und zu Navigationszwecken diente.
Der schönste Moment: Die nächste Siedlung ist teilweise Tageswanderungen entfernt. Und außerhalb der Hauptsaison begegnet man schon mal zwei Tage lang niemandem. Ich hatte dafür in der ersten Woche täglich das Vergnügen, Rentiere zu sehen, denen ich mich bis auf fünf Meter nähern konnte.
Das Besondere an der Tour? Mir geben Wanderungen dieser Art die Möglichkeit, mich komplett aus dem Alltag auszukoppeln. Es ist egal, welcher Wochentag ist, wie spät es ist. Denn man richtet sich nach der Sonne, steht mit ihr auf und geht mit ihr zu Bett. Für mich gibt es dann nur drei wichtige Fragen: Wo schlafe ich heute Nacht? Wie viel Essen habe ich noch? Wo kann ich mein Wasser auffüllen? Mehr ist nicht wichtig, und ich stelle wieder und wieder fest: Alles, was ich brauche zum Glücklichsein, kann ich in einen Rucksack packen. Unterwegs fühlen sich dann einfache Dinge gleich wie Luxus an: ein kalter Fluss zum Waschen, Holz zum Hacken. Mehr ist nicht nötig, wenn man nach 30, 40 Kilometern an einer Hütte ankommt. Und dort einen Ofen anheizen will.«
Martin Ratsch, 32, Göteborg
Zehn Tage im Kajak: Rhein ins Vergnügen
»Wenn ich auf das erste Jahr der Corona-Pandemie zurückblicke, gibt es neben einigen weniger schönen Erinnerungen auch Höhepunkte: Im Sommer bin ich 766 Kilometer weit mit dem Kajak gepaddelt – aus der Nähe von Genf bis nach Königswinter in zehn Tagen. Los ging es gemeinsam mit einem Freund im Canal d'Entreroches, dem Überbleibsel eines gescheiterten Kanalbauprojekts aus dem 17. Jahrhundert, bei dem der Genfer See mit Nebenflüssen des Rheins verbunden werden sollte. Der Kanalrest ist keinen Meter breit und enthält gefühlt mehr Pflanzen und Frösche als Wasser. Während wir uns durch das Schilf schoben, uns mit den Paddeln vom Land abstoßend, schien uns der Rhein unendlich weit entfernt.

Klaus Hanke bahnt sich mit einem Kajakfreund einen Weg durch den Canal d'Entreroches
Foto: Klaus HankeDoch dieser Abschnitt war nicht die einzige Herausforderung: Im Flüsschen Zihl, das wir nach dem Canal d'Entreroches erreichten, ist das Wasser zunächst noch so flach, dass wir treideln mussten. Dabei zieht man das Kajak wie einen Hund an der Leine hinter sich her. Später, im Rhein-Nebenfluss Aare, machten uns unzählige Staustufen zu schaffen, die nicht nur die Strömung bremsen, sondern die auch dafür sorgen, dass man sein Kajak ständig umtragen muss. Das heißt: raus aus dem Wasser, Kajak an Land hieven, es auf einen mitgeführten Wagen schnallen – und es am Ufer zum nächsten Einsetzen ziehen.
Das zehrt an den Kräften und braucht Zeit. Trotzdem ist die Aare zu Recht einer der bekannten Kajakflüsse der Schweiz. Vom Wasser aus hat man einen ganz anderen Blickwinkel auf das Land. Vielleicht war auch der Freiheitsdrang nach wochenlanger Ausgangssperre noch größer als sonst. Besonders schön ist die Aareschlucht bei Brugg – einem kurzen Wildwasserabschnitt, der aber dank des niedrigen Wasserstands im vergangenen Sommer leicht befahrbar war.
Warum diese Strecke? Das Abenteuer liegt vor der Tür – so einfach ist das für mich. Die Idee war schon länger gereift, und die Karte mit den europäischen Wasserstraßen hing seit geraumer Zeit an der Pinnwand in meinem Büro. Darauf mit Textmarker markiert: der Wasserweg von Genf, wo ich seit 23 Jahren lebe und arbeite, nach Niederdollendorf am Rhein, wo ich aufgewachsen bin.
Der schönste Moment: Während der Durchquerung der Neuenburger und Bieler Seen, die durch den Zihlkanal verbunden sind, herrschte eine befreite Sommerferienatmosphäre. Viele Schweizer, die 2020 nicht verreisen konnten, verbrachten ihren Urlaub im eigenen Land, und das Coronavirus schien auf einmal ganz weit weg.
Das Besondere an der Tour? Die Freude darüber, etwas Außergewöhnliches geschafft zu haben, stellt sich bei mir immer erst an den folgenden Tagen ein – sie ist dann aber umso größer. Zum Abschluss meiner Tour standen zwei Tage von je 120 Kilometern an. Ich musste von früh bis spät mit nur kurzen Pausen paddeln. Vorbei an der Industrie bei Mannheim und Ludwigshafen und dann durch das Mittelrheintal, ein Welterbe mit zwei potenziellen Gefahrenstellen – Binger Loch und Loreley –, wo die Strudel ein kleines Kajak schnell verschwinden lassen können. Doch dann, nach einer Rheinkehre bei Unkel, kam das Siebengebirge bei Königswinter in Sicht. Geschafft!«
Klaus Hanke, 53, Genf
Bearbeitet von Julia Stanek