

Auf dem »Sentiero Italia« 2500 Kilometer zu Fuß durch Italien
Im Frühjahrs-Shutdown suchte ich verzweifelt nach einer machbaren Langstreckenroute für den Sommer. Nachdem Italien als eines der ersten europäischen Länder nach Beginn der Coronakrise die Grenzen wieder öffnete, warf ich spontan alle anderen ungewissen Wanderpläne über den Haufen und entschied mich für den »Sentiero Italia«.
Auf 7000 Kilometern führt der »italienische Pfad« in mehreren Varianten vom Alpenbogen bis nach Sizilien. 2500 Kilometer davon bin ich 2020 längs durch das ganze Land gelaufen: vom Luganer See an der Schweizer Grenze bis nach Reggio Calabria an der Stiefelspitze, von Juli bis November. Und was als Corona-Notlösung begann, entpuppte sich für mich als einer der spektakulärsten – aber auch unbekanntesten – Fernwanderwege Europas. Er kann sich nicht nur längenmäßig mit den bekannten US-Trails messen, die ich bereits gelaufen bin.
1500 Höhenmeter Aufstieg bewältigte ich im Durchschnitt jeden Tag, weil der »Sentiero Italia« südlich der Alpen durchgängig auf dem Kamm der Apenninen verläuft. Dieser Gebirgszug durchzieht den Stiefel bis hinunter nach Sizilien und ist alles andere als ein gemütliches Mittelgebirge: Im Gran Sasso erreicht er sogar knapp 3000 Meter Höhe, und selbst südlich von Neapel wanderte ich noch an Skiliften vorbei. Diese Höhenlage sorgt für immer neue großartige Ausblicke – und angenehme Temperaturen im Hochsommer.

Dicht bevölkert waren die Apenninen wohl nie, doch aufgrund der modernen Landflucht hängen in den Dörfern heute unzählige »Zu verkaufen«-Schilder an den Häusern, und entlang des Weges verfallen aufgegebene Gehöfte und Steinmauerterrassen. Etwas Proviant hängt an nun herrenlosen Obstbäumen und verwilderten Weinstöcken.
»Lupi! Lupi! – Wölfe! Wölfe!«
Obwohl man in vielen Orten in einem Agriturismo, einer Unterkunft auf einem Bauernhof, oder in den Schutzhütten der Nationalparks unterkommen kann, habe ich unentdeckt fast jede Nacht draußen kampiert und in der Regel auch auf meinem Gaskocher gebrutzelt. Wenn ich einen Supermarkt in der Nähe hatte, gab es zum Abendessen oft frische Pasta wie Ravioli mit Kürbisfüllung, etwas weniger luxuriös dann Risotto oder Polenta aus der Tüte. Mit dabei hatte ich meine komplette Campingausrüstung aus Zelt, Isomatte und Quilt sowie meinen Topf. Da ich ultraleicht unterwegs bin, wog meine gesamte Ausrüstung inklusive Rucksack nur gut fünf Kilogramm. Nur einmal pro Woche legte ich einen Ruhetag in einem Hotel in der Stadt ein – dann gab es auch mal eine Pizza und einen halben Liter Wein.
In den alten Buchenwäldern des Apennin ist selbst tagsüber kaum jemand unterwegs – außer im Herbst, wenn die Pilzsammler schon vor Sonnenaufgang mit klapprigen Fiats über die holprigen Forststraßen brettern. In meinen Zeltnächten ließen mich daher auch die frei laufenden Kühe und Pferde nicht in Ruhe schlafen. Die bimmeln nämlich auch nachts mit ihren Glocken.
Ziegen und Schafe machen zwar nicht so viel Lärm, werden in Italien aber meist von Maremmen-Abruzzen-Schäferhunden bewacht. Wenn so eine Herde nun ausgerechnet direkt an meiner Route weidete, ließen mich die Herdenschutzhunde erst passieren, nachdem sich ihre Schützlinge satt gefressen und von selbst den Weg geräumt hatten. Und das konnte dauern.
Als ich an einem nebligen Tag mangels Zeltmöglichkeit bis weit in die Dunkelheit hinein gewandert war, stupste mich bei einer Orientierungspause ganz unerwartet etwas Nasskaltes von hinten in die Kniekehlen. Erschrocken fuhr ich herum – und starrte im Vollmondlicht auf die Erscheinung eines riesigen weißen Hundes. Mein Schrei weckte den Schäfer, der nun in langen Unterhosen mit einer Taschenlampe bewaffnet aus seiner Schutzhütte stürzte und sich wohl erstaunt fragte, was diese hysterische Deutsche mitten in der Nacht bei seiner Schafherde zu suchen hatte.
Ganz Kavalier bot er mir jedoch sogleich einen Schlafplatz auf dem Boden seiner Unterkunft an. Als ich sein Angebot aufgrund des dortigen Chaos aus leeren Weinflaschen und Zigarettenkippen ablehnte, erklärte er mir eindringlich: »Lupi! Lupi! – Wölfe! Wölfe!« In Italien sind tatsächlich geschätzt 2000 Wölfe und fast hundert Bären heimisch. Da Wölfe im Gegensatz zu kettenrauchenden Schäfern aber nicht schnarchen, schlief ich dann doch lieber allein in meinem Zelt. Als Schaf hätte ich vermutlich anders entschieden.
Rot-weiße Markierungen – aber eher lückenhaft
Die zahlreichen Viehtränken am Weg sicherten übrigens auch meine Wasserversorgung. Da die Züchter das Wasser in der Regel direkt von der Quelle über Plastikschläuche auf die Weiden leiten, musste ich es nicht mal filtern. Es gibt aber auch in fast allen Dörfern einen öffentlichen Wasserspender, und selbst die Friedhöfe haben einen Wasseranschluss für die Grabpflege. Für gelegentliches Wasserzapfen und die anschließende Katzenwäsche wurde mir die Störung hoffentlich verziehen.
Der italienische Alpenverein CAI hatte den »Sentiero Italia« bereits in den Neunzigerjahren entwickelt, aber er geriet schon ein Jahrzehnt später wieder in Vergessenheit und wurde nicht mehr instand gehalten. Die wenigen Tourenberichte im Internet klangen daher auch wenig ermutigend. Doch seit 2018 hat sich der CAI die Erneuerung des Weges auf die Fahnen geschrieben und eine Website (Scopri il Sentiero Italia CAI) mit Beschreibungen der einzelnen Etappen aufgebaut – zwar leider nur auf Italienisch, aber da hilft ja ein Übersetzungsprogramm.
Auch draußen in der Landschaft ist dieses Mammutprojekt schon recht gut umgesetzt: Wenn der »Sentiero Italia« auf den populären Routen wie dem Ligurischen Höhenweg oder der Grande Escursione Appenninica verlief, musste ich mir um Wegezustand und Navigation keine Sorgen machen. Doch je südlicher ich kam, desto mehr Probleme tauchten auf – zumindest außerhalb der gut gepflegten Nationalparks. Zwar ist die 7000 Kilometer lange Strecke weitgehend mit rot-weißen Streifen markiert, doch sind manche Pfade so zugewachsen, dass hier wohl nach der Erstmarkierung durch den Wegewart niemand mehr durchgekommen ist.
Leider ist die mediterrane Vegetation dermaßen stachelig und dornig, dass ich trotz hochsommerlicher Temperaturen in langen Hosen wandern musste und mir oft eine Heckenschere wünschte.
Geisterstädte nach den Erdbeben
In den Erdbebengebieten Mittelitaliens war der Weg einige Male mit tonnenweise Bauschutt versperrt, denn viele der zerstörten Dörfer sind auch Jahre nach den Erdbeben von 2009 und 2016 noch nicht wiederaufgebaut. Die obdachlos gewordenen Menschen sind bis heute in provisorischen Containersiedlungen untergebracht. Besonders berührt hat mich in einer solchen Geisterstadt ein halb intaktes Haus ohne Fassade. Das ehemalige Schlafzimmer mit dem aufgeschlagenen Bett wirkte, als ob die Bewohner gerade zum Frühstück aufgestanden wären.
Größere Städte meidet der »Sentiero Italia« komplett, doch er führt durch viele hübsche Dörfer und nimmt gefühlt auch so ziemlich jeden populären Wallfahrtsort Italiens mit – wie etwa Eremo Serrasanta bei Gualdo Tadino oder Santuario di Montevergine bei Avellino. Auf den jahrhundertealten, steingepflasterten Wegen zu den meist hoch oben am Berg thronenden Heiligtümern und Einsiedeleien war ich allerdings immer mutterseelenallein unterwegs. Die zahlreichen italienischen Pilger fahren inzwischen mit dem Auto vor.
Überhaupt habe ich während meiner dreieinhalb Monate auf dem Sentiero Italia keine anderen Fernwanderer oder -wanderinnen getroffen. Der Weg ist noch ein Geheimtipp für Entdecker. Diese sollten aber einiges an Pioniergeist, ein GPS-Gerät und manchmal bestenfalls sogar eine Machete mitbringen.
Meine Wanderung endete Anfang November abrupt, aber mit einer Punktlandung in Reggio Calabria. An meinem letzten Wandertag konnte ich schon den Ätna und die Küste Siziliens erkennen, als ich auf meinem Smartphone die Hiobsbotschaft las: Schon ab morgen würde Kalabrien zur roten Zone erklärt. Hier gab es zu dem Zeitpunkt zwar wenige Corona-Fälle, aber noch weniger Intensivbetten. Mein geplanter Strandurlaub zur Erholung nach dieser anstrengenden Tour entfiel.
Ich schaffte es gerade noch bei Sonnenuntergang ans Meer, um ein Schlussfoto zu machen. Am nächsten Tag wäre das wegen der Ausgangssperre schon nicht mehr erlaubt gewesen. Bei meiner Ankunft in der Stadt waren bereits alles geschlossen – auch die Waschsalons. Die 34-stündige Heimreise mit dem Zug nach Berlin musste ich am nächsten Morgen in meinen dreckigen Wanderklamotten antreten.