Todeskult und schwarzer Humor Wien stirbt anders
Goldeggasse 29. Herwig Zens schenkt vom guten Veltliner nach und erzählt von der Allianz der Stadt mit dem Tod. Denn darin kennt er sich aus, der Maler, Grafiker und Akademieprofessor. Vom vierten Stock aus blickt man über einen stillen Hinterhof in die Dämmerung. »Jeder Künstler«, sagt Zens, »der sich länger als sechs Monate in Wien aufhält, macht einmal den Tod zum Thema seiner Arbeit.«
Beispiele gäbe es genug. Mozart gehörte dazu, schon wegen seines Requiems. Schnitzler, dessen Leben gequälte Verwirrung war, das Herz voll dunkler Kammern. Man könnte Beethoven nennen, den Bildhauer Alfred Hrdlicka, den Maler Arnulf Rainer, berühmt wegen seiner übermalten Totenmasken. Oder den Lyriker H. C. Artmann, der dichtend mit der Tramway zum Zentralfriedhof holperte: »... dua r an lawendl mitdrong / a bischal a bischal gremadorium... Tu einen Lavendel mittragen / ein Sträußchen, ein Sträußchen Krematorium«.
Herwig Zens, Jahrgang 1943, kam als junger Mann nach Wien. Auch seine Arbeiten sind dominiert von nekrophilen Themen. Beklemmende eruptierende Symphonien in Öl. Der Tod und der Papst. Der Tod und der Bürgermeister. Der Tod und die Jungfrau. Der Tod und das Kind.
Letzte Ruhestätte auf der Visitenkarte
Bei Zens kommt keiner davon. Motive von Goya und das Thema Stierkampf lässt er in seine Bilder einfließen. Spanien fasziniert ihn, logisch. Zens: »Das ist auch ein Land, wo der Tod zum Brauchtum gehört.« Dann noch eine Geschichte: Kreta vor fast 30 Jahren, Zens raucht täglich 80 Zigaretten, trinkt Unmengen Cognac, arbeitet pausenlos: Herzinfarkt. »Ein schönes, befreiendes Gefühl ich bin nur ungern wieder in meine Hülle zurückgekehrt.« Vor Begeisterung, so Zens, hätte er diese Erfahrung danach noch dreimal wiederholt.
Der Wiener und der Tod. Ein weites Land, um mit Schnitzler zu sprechen. Der Wiener Alleskünstler André Heller schrieb einmal, dem Tod käme »in der Geisterbahn des Lebens, wie in jener des Wurstelpraters, die Rolle des Ausrufers schöner Schrecken zu«. Wo sonst würde man lachen über das Bonmot: Sagt einer: »Weißt, wer g’storben is?« Antwortet der andere: »Mir is jeder recht.« Wo sonst verteilen sie Visitenkarten, auf denen die Adresse der letzten Ruhestätte verzeichnet ist?
Eingeweide in Kupferbottichen
Wien stirbt anders, meint Herwig Zens: »Geht man durch Zürich, riecht man das Geld; geht man durch New York, spürt man die schnelle Belanglosigkeit; in Wien begleitet einen der Tod.« Dazu muss man nur die Grüfte unter dem Stephansdom besuchen mit ihren Kupferbottichen voller Eingeweide, Beinhäuser voller Schädel und geschichteter Knochen. Im Stephansdom läuft die katholische Kirche als Zeremonienmeister zu Hochform auf. Neben einem Altar das Epitaph: Optima philosophia et sapientia est meditatio mortis »Es ist die höchste Philosophie und Weisheit, sich den Tod vor Augen zu halten«. Im Stephansdom muss jeder gewesen sein.
Auch in der Kapuzinergruft, in der sich die sterblichen Überreste von fast 150 Habsburgern befinden in monströsen Blei- und Bronzesärgen, platziert auf Löwenschultern, Krallenfüßen, Marmorsockeln, dekoriert mit Totenschädeln, die Reichskronen tragen. Maria Theresia und ihr Gemahl liegen hier in einem Monstrum von Sarg gleich einem Hochzeitsbett. Und wer nicht weit entfernt davon an einer Führung durch die Grüfte der Michaelerkirche teilnimmt, steht zwischen morschen Särgen auf eineinhalb Metern festgetretenem Lehm, Dreck und menschlichen Überresten. Einige der mumifizierten Leichen sind zur Beschau freigegeben; sie tragen Handschuhe, Hauben und manchmal sogar ein barockes Kleid.
So taumelt der Besucher zurück ans Tageslicht. Vom Michaelerplatz zum Graben, vorbei an der barock verschnörkelten Pestsäule, vorbei an monumentalen Bürgerbauten, die einem vorkommen wie Grabdenkmäler des Habsburgerreichs. »Allein blieb ich, allein, allein, allein, ich ging in die Kapuzinergruft«, lässt Joseph Roth seinen Franz-Ferdinand Trotta nach dem Zusammenbruch der Donaumonarchie im Roman »Die Kapuzinergruft« sagen. Zens erzählt von Spaziergängen mit ausländischen Besuchern, die im Graben nach Luft schnappten und sich vorkamen »wie ein Frosch auf dem Grund eines Glaserls«.
Friedhof als Bastelsatz
Als Sigmund Freud einen menschlichen Atlas des Unterbewussten erstellte, verzeichnete Wien eine hohe Rate an Selbstmorden, Selbstmordversuchen und eine abnorm hohe Quote an sogenannten Irren. Freud schloss daraus, die Todessehnsucht des Menschen sei stärker als der Liebestrieb.
»Man sollte nicht glauben«, sagt Wittigo Keller, »der Wiener habe keine Angst vor dem Tod.« Keller ist der leitende Kurator des Bestattungsmuseums. Sollte der Wiener den Tod tatsächlich fürchten hier merkt man es nicht. Und Keller begrüßt seine Gäste auch gern mit dem Satz: »Bei uns liegen Sie richtig.«
Im Museumsshop verkaufen sie einen Friedhof als Bastelsatz und Bohrmehl im Reagenzglas von einem Sarg, den Rüsselkäfer unter der Michaelerkirche zerfressen haben. Wenn sie Probeliegen im Sarg anbieten, stehen die Besucher in Dreierreihen an. In den Ausstellungsräumen hängen Bahrtücher aus Samt und Brokat, bestickt mit Goldfäden. Pferdeschmuck aus schwarzen Straußenfedern. Es gibt einen Leichenwagen aus dem späten 19. Jahrhundert mit der Aufschrift »Entreprise des Pompes Funèbres« daraus leitet sich der Begriff Pompfineberer ab, so wird noch heute in Wien der feierlich gekleidete Leichenbestatter genannt, der den Sarg in merkwürdiger postmoderner Gala begleitet. Die Sitte hält sich hartnäckig. Bei Beerdigungen der Sonderklasse geht man in Violett.
Eine »schöne Leich« ist immer noch wichtig
Das Bestattungsmuseum zelebriert, was in Wien bis Anfang des 20. Jahrhunderts pompöses Ritual war und immer noch geflügeltes Wort ist: »die schöne Leich«. Es gab Sterbevereine und Sterbekassen. Man ließ den Staatsopernchor singen, die Leichen für ein Erinnerungsfoto inszenieren. Keller: »Man muss sich das vorstellen wie eine Theateraufführung.« Zog der Kondukt abends durch die Innenstadt, tauchten flackernde Kerzen die Lampionträger in ein gelborangefarbenes Licht. Für prominente Beerdigungen wurden am Graben Zimmer mit Aussicht vermietet. »Man stolperte«, so Keller, »täglich über den Tod.« Die Habsburger hatten diese Inszenierungen kreiert, später wurden sie von Adel und Bürgertum imitiert. Allerdings war es nur den Habsburgern gestattet, dreimal bestattet zu werden: ihre Herzen in Silberurnen in der Augustinerkirche, ihre Eingeweide unter dem Stephansdom, die Leichname in der Kaisergruft.
»Heute«, sagt Keller, »wird alles weniger opulent gestaltet. Aber eine schöne Leich’ ist immer noch wichtig.« Die Stadt Wien hat mit ihrem kommunalen Unternehmen »Bestattung« 13 Servicestellen; ihre Sargofferten hießen früher »Erlkönig«, »Model Secession« oder »Model Elisabeth«. Das Magazin Trend titelte vor einigen Jahren zu einer Story über den Konkurrenzkampf der Bestattungsfirmen: »Wer nicht wirbt, stirbt«, Berührungsängste mit diesem Thema sind Wienern traditionell fremd. Man sitzt ja auch traulich beim Heurigen und singt: »Es wird ein Wein sein, und mir wern nimmer sein/... Swird schöne Maderln gebm, und wir wern nimmer lebn. Hollodoro! Hollodoro!«
Mit dem »Witwenexpress« zum Friedhof
Bei dem einen oder anderen Glaserl oder Schluckerl tut der Gedanke an das »Abfahren«, wie der Wiener das Sterben nennt, allemal weniger weh. Wenngleich es dem Wiener, der ewig raunzt, ohnehin nicht gut geht, wenn es ihm nicht schlecht geht. Immer ein bisserl Schmerz dabei. Keller: »Wir erleben den Tod zu Lebzeiten nicht als Feindbild, mehr als eigenen Schatten, einen Kumpel, bei dem man sich unterhakt und auf einen Wein geht.«
Keinem gelang die künstlerische Umsetzung dieser Melange aus Lebenslust und Todesseligkeit so prosaisch wie dem Kabarettisten, Liedermacher und Poeten Georg Kreisler, dem selbst die schönste Wiener Mitzi, Fritzi und Leopoldin bereitwillig auf die Schippe springt. »Der Tod, das muss ein Wiener sein / Nur er trifft den richtigen Ton: / Geh Schatzerl, geh Katzerl, was sperrst dich denn ein? / Der Tod muss ein Wiener sein.«
Auf der Simmeringer Hauptstrasse rumpelt der »Witwenexpress«, so heißt im Volksmund die Straßenbahn der Linie 71. Sie ist unterwegs zum Zentralfriedhof, über den sie sagen, er sei halb so groß wie Zürich und doppelt so lustig. Erhard Rauch, Leiter der Magistratsabteilung 43, ist verantwortlich auch für 46 kommunale Friedhöfe und zählt den Zentralfriedhof zu Wiens populären Sehenswürdigkeiten. Kann aber auch die meisten anderen Wiener Friedhöfe empfehlen. Der St. Marxer etwa, auf dem Mozart begraben wurde, gilt als Ikone des Biedermeier. Der jüdische Friedhof in Währing ist durchflutet von märchenhaftem Zauber. Und am Alberner Hafen dämmert nahezu unbeachtet der skurrilste Gottesacker vor sich hin: Auf dem »Friedhof der Namen-losen« wurden Mittellose, Selbstmörder und Wasserleichen bestattet.
Zurück zum »Zentral«, den jeder kennt. 2,5 Millionen Quadratmeter, drei Millionen Tote, bis zu 40 Bestattungen täglich, 20 Gärtnereibetriebe, drei Haltestellen der Tram, Bahnstation, eigenes Bussystem. Die majestätisch schöne Jugendstilkirche »Zum Heiligen Karl Borromäus«, ein Babyfriedhof, ein Park der Ruhe und Kraft, der, so Rauch, »nach der alten Tradition der Geomantie und Gartengestaltung angelegt ist«. Dazu reihenweise Ehrengräber Johann Strauß Vater und Sohn. Brahms, Nestroy, Beethoven. Birken, Mehlbeeren, Ahorn, Thujen werfen Schatten auf die Gräber von Bruno Kreisky, Arnold Schönberg, Curd Jürgens und Helmut Qualtinger, der einmal sagte: »In Wien muasst erst sterben, damits di hochleben lassen, aber dann lebst lang.« Das gilt auch für Sisi wie für Popsänger Falco. Und für Emilie Hawrysewitsch, Direktorengattin der Bukowiner Landesregierung, verschieden am 24. 1. 1916, »in der trostlosen Emigrationszeit weit von der von den Russen okkupierten Heimatscholle«, wie auf dem Grabstein steht.
Kunst aus der Pathologie
Zieglergasse 31, wieder geht es um den Tod in der Kunst. Wir sind im Atelier von Harald Köck, der die Bilder für die Veranstaltung »Unterwelt und Tod« gemalt hat. Seine Arbeiten aus der pathologischen Abteilung des Krankenhauses St. Pölten haben weit über Österreich hinaus Berühmtheit erlangt; später hat er auch in New York geöffnete Leichen studiert. Köck sagt: »Für mich ist das ein Leib ohne Seele, warum soll man da nicht reinschauen und sich selbst identifizieren?« Köck meint, das sei nicht unappetitlicher als in die Fleischerei zu gehen. Das sieht nicht jeder so. »Bei meinen Ausstellungen gibt es nur Faszination oder Abscheu. Dazwischen ist nichts.« In seinem Atelier hängen Zeitungsartikel. In einem steht der Satz: »Lieber vom Leben gezeichnet als vom Köck gemalt.«
Der Kurator des Bestattungsmuseums will mit Köck ein Projekt besprechen für eine Ausstellung von Kunstwerken zum Thema Tod, geplant für die »Bestattung«, die 100. Geburtstag feiert. Keller entdeckt eine Urne. »Was ist damit?« Sie beinhalte die Asche seines geliebten Hundes, erzählt Köck, und wie er mit ihr in der Straßenbahn nach Hause fuhr, der Inhalt noch heiß. Und dann kommt den beiden eine Idee: Warum nicht die Urne auf eine Wärmeplatte stellen, dazu ein Video mit Köck in der Straßenbahn? Sinnbild für das Verglühen des Lebens, die Energie, die über den Tod hinaus noch spürbar ist? Keller: »Wer sich nicht mit dem Tod auseinandersetzt, dem fehlt was.« Köck: »Der hat Angst vor dem Leben.«
Hauptstadt des kunstvollen Sterbens
Wenig später in der Straßenbahn denke ich an Herwig Zens, der so schön malen, so schön erzählen kann von Tod. Am Ring biegt die Tram ein, fährt vorbei an den steinernen Relikten der Donaumonarchie. Immer linksherum, links, links. »Denken Sie nur an den Walzer«, hatte Zens gesagt, »er ist meines Wissens nach der einzige Tanz, der auch links eingedreht wird.« Wie bei einem Infarkt. Rechte Hand ans Herz. Herwig Zens: »Ein Gefühl wie beim Fleckerlwalzer das Herz bleibt am selben Platz, man dreht sich ein und führt die Dynamik zum Nullpunkt.«
Der Publizist Günther Nenning, der unlängst starb und lang leben wird, schrieb einmal, Austrias Metropole sei die »Hauptstadt des Lebens nach dem Tode vielleicht, weil es die Hauptstadt eines Reiches war, das so kunstvoll unterging, dass darin die Gewähr für immer neue Auferstehung zu immer kunstvollerem Sterben liegt«.