Toskana Zum Verlieben herb - der Mugello
Der Frühnebel, der über Bosco ai Frati, dem Wald der frommen Brüder, wabert, umhüllt auch die 1000 Jahre alte Abtei, über die schon die Medici ihre schützende Hand hielten. Nur noch zwei Mönche leben hier, ein sehr alter und ein noch junger Bruder, der den Garten betreut. Klein und in sich zusammengesunken sitzt der ältere Franziskaner in der warmen Klosterküche, wo es nach Wildschweinbraten und frisch gebackenem Brot duftet.
"Padre Giorgio", ruft die Köchin laut und zupft den Greis an seiner kastanienbraunen Kutte, "das Kruzifix!" Wenn es um den größten Schatz des bettelarmen Klosters geht, ist der 87-jährige Pater hellwach, zieht ächzend seine dunkelbraunen Turnschuhe an und hinkt durch den Kreuzgang zur Sakristei. Die ist mit Alarmanlagen gesichert, denn drinnen hängt, nur von zwei billigen Kaufhausleuchten angestrahlt, ein Kunstwerk von makelloser Schönheit: das elfenbeinfarbene Kruzifix, das vom großen Donatello stammen soll.
"Es ist wirklich echt", beharrt Padre Giorgio. Einmal, bei einem Erdbeben um 1550, sei der Heiland vom Altar gefallen, wobei er sich seine rechte Wange abbrach. "Aber kein Holzschnitzer traute sich je, ihn zu restaurieren", sagt der Mönch, "sie ahnten, dass das Kunstwerk aus der Hand eines Größeren stammt."
Das Kloster Bosco ai Frati liegt im Mugello, dem Vorgarten von Florenz, nur eine halbe Stunde nördlich der hektischen Großstadt. Ein Stück herbe, unrasierte Toskana am Kamm des Apennin, das viele Italienreisende einfach links liegen lassen, weil sie das Land ihrer Sehnsüchte eher im lieblichen Chianti oder im Schatten der Türme von San Gimigniano suchen.
Dabei gibt es im rauen, bäuerlichen Mugello eine einzigartige Erfolgsgeschichte: "In Cafaggiolo ganz in unserer Nähe kam 1360 Giovanni di Bicci, der geschäftstüchtige Stammvater der Medici, zur Welt", erzählt Padre Giorgio. Der Sohn eines Schmieds - oder war es ein Köhler? -, der als Florentiner Bankier den Päpsten Geld lieh, die ersten Holdings gründete und dadurch richtig Kohle machte, die seine Erben als weltbeste Kunstmäzene und glücklose Kriegsherren wieder ausgaben.
Wild und wilde Orchideen
Natürlich legt uns der Padre auch den kleinen Ort Vicchio ans Herz, wo gleich zwei begnadete Maler, Giotto und Fra Angelico, geboren wurden. Dort gibt es die Casa di Giotto und die kleine Brücke, über die heute die Lastwagen auf der vielbefahrenen SS 252 vorbeidonnern. Hier soll der junge Giotto gerade Schafe gehütet und einen seiner wolligen Schützlinge so naturgetreu auf einen Stein gezeichnet haben, dass Meister Cimabue, der größte Maler im spätmittelalterlichen Florenz, der gerade des Wegs kam, ihn spontan als Lehrling in seine Werkstatt nahm.
Warum, fragt sich Padre Giorgio oft, reisen nur wenige Toskana-Liebhaber in den Mugello? Nun, wenigstens Rennsport-Fans wissen Bescheid: "Mugello" heißt nämlich auch die Piste bei Scarperia, wo die Ferrari-Jungs ihre jaulenden roten Geschosse durch die Kurven jagen. Doch wenn der Rennzirkus vorbei ist, herrscht wieder Stille am Ring, unterbrochen nur vom Grunzen der Wildschweine.
Wer nämlich zu Fuß oder mit dem Mountainbike unterwegs ist, wird mehr Wild sichten oder seltenere Orchideenarten finden als vor 20 Jahren. Denn die Natur hat sich schneller als gedacht von Eingriffen wie der Rennstrecke, der seit zehn Jahren unvollendeten Schnellbahntrasse und dem Bilancino-Staubecken erholt. "Der See ist eine Oase für Zehntausende von Zug- und Wasservögeln geworden", sagt Paolo Bassani vom Osservatorio Naturalistico Mugellano in Borgo San Lorenzo, "selbst die Wölfe sind zurück, im Wald bei La Moscheta haben wir neulich ein Rudel von neun Tieren beobachtet." Ausgerechnet da, wo ich gestern gewandert bin, wenn auch ohne Wein und Kuchen im Korb ... "Signora, Rotkäppchen ist ein Märchen. Unsere Apennin-Wölfe sind ganz scheue Tiere, die mehr Angst vor uns haben als wir vor ihnen!"
Dagegen waren die Medici noch richtige Alpha-Tiere. Schon ihr berühmtes Wappen, das an Villen, Kirchen und Rathäusern prangt, ist schwer testosteronhaltig: die palle, die sechs Kugeln, sind nach den edelsten Teilen des Mannes geformt. "Palle, palle" hieß auch der Macho-Schlachtruf der Medici-Anhänger, so wie die tifosi heute beim Fußball "Forza azzuri!" schreien. Auch wenn Florenz das Epizentrum der Macht war, kehrten die Renaissance-Fürsten gern in die Provinz zurück. Cosimo der Alte ließ seinen Baumeister Michelozzo die eleganten Landsitze Castello di Trebbio und die Villa di Cafaggiolo bauen, wo Lorenzo der Prächtige und sein geliebter Bruder Giuliano, der später im Dom ermordet wurde, eine wilde glückliche Kindheit verbrachten.
Schon Amerigo Vespucci genoss den Ausblick
Hier wuchs auch der Medici-Papst Leo X. auf, traf sich die damalige Toskana-Fraktion zu Jagdpartien und glanzvollen Festen. Von uralten Zypressen wie Wachsoldaten gesäumt, führt der Feldweg in Serpentinen zum Castello di Trebbio hinauf. Hoch auf dem Söller bauscht sich die weißrote Lilienfahne im Sommerwind, ein Zeichen, dass der heutige Schlossherr, ein Privatier, anwesend ist. Vom Turm sollen illustre Gäste wie der Seefahrer Amerigo Vespucci, der 1476 vor der Pest in Florenz geflohen war, den Rundblick genossen haben. Der Entdecker der Neuen Welt wurde sicher mit mehr Ehren empfangen als heutige Besucher. Die müssen nämlich draußen bleiben und sich vom Hund des Aufsehers verbellen lassen.
Mehr Glück haben wir in der Villa di Cafaggiolo, die wenigstens stundenweise ihre Pforten öffnet. Das Mobiliar sei leider nicht mehr original, bedauert die sonnenblumenblonde Schlossführerin Milvia La Bardi, als sie uns durch die kalten, leeren Säle vorausstöckelt: keine prachtvollen Gobelins mehr, keine plüschigen Baldachinbetten oder Gemäldegalerien mit schmallippigen Adelsdamen, aber immerhin Tatort eines blutrünstigen Krimis: "Hier im Schlafgemach, wo Sie gerade stehen, wurde sie ermordet", sagt die Signora und zeigt auf das einzelne Porträt einer lieblichen spanischen Prinzessin mit Perlen im Haar. In der Nacht zum 12. Juli 1576 ließ der krankhaft eifersüchtige Pietro de Medici seine Gemahlin Eleonora durch Häscher erdolchen, weil sie ihm angeblich untreu war. "Ein kleiner Unfall", schrieb der Psychopath in einem krakeligen Bekennerbrief. Auch der Mördergatte wurde später erstochen und schmort wohl in Dantes Inferno. In den Gartensälen des Schlosses decken die Domestiken von einer Catering-Firma für die nächste Promi-Hochzeit am Wochenende. Die Sache hat Stil. "Der Name Medici zieht immer", sagt die Signora.
Am Palazzo dei Vicari von Scarperia, einer Miniatur des Palazzo Vecchio in Florenz, findet sich das Medici-Wappen wieder. Scarperia war immer ein treuer Außenposten im Apennin, weshalb die Damen und Herren zum Palio Diotto, dem historischen Umzug am 8. September, in kostbaren Brokatgewändern oder in Wams und Pluderhosen flanieren. Zur Tradition des Ortes gehört auch das uralte Handwerk der coltinai, der Messerschmiede. "Willst du mal bei uns reinschauen, Mädel", scherzt Luca Acciaioli, der junge Boss der Bottega di Coltelli, "hier gibt es ziemlich gute Typen."
Die einzige Messerschmiede-Schule in Italien
Lässig lässt er seine spinnenartigen Tattoos auf den Armmuskeln spielen. Zwischen Amboss, Schleifstein, Schneidstahl und Ofen werken seine Kollegen Piero und Roberto wie vor hundert Jahren. "Wir sind die einzige Schule für Messerschmiede in Italien", sagt Luca stolz, "bei uns lernst du in einem 32-Stunden-Kurs, was 'ne scharfe Klinge ist." Die Männer machen noch alles per Hand: Jagdmesser, Hirschfänger, Dolche, Degen, was Männer so brauchen. Auch Küchenmesser? "Das Beste vom Besten", meint der alte Piero und zeigt mir einen Satz Edelstahl mit Schäften aus poliertem Olivenholz.
"Der Ölbaum ist unser größter Schatz", sagt Paolo Pasquali, der toskanische Olivenöl-Papst, "da, riechen Sie doch mal!" Ich schnuppere gehorsam an den Steinkrügen mit goldgelber Flüssigkeit - und rieche nichts. "Um das profumo eines reinen Öls extra vergine von einem verpanschten zu erkennen, müssen Sie Ihre Nase wieder gebrauchen", mahnt Pasquali. Tatsächlich, der eine Bottich duftet nach Wiesen, Kräutern und Zypressen, der andere eher nach Lampenöl. Riechprobe bestanden.
Es gibt viele Vinotheken in Italien, aber nur eine oleoteca, wo man Olivenöl verkosten kann: bei Pasquali in der Villa Campestri, einem Vier-Sterne-Hotel in den Hügeln von Vicchio. Eigentlich könnte der Hotelier das beschauliche Leben eines Landedelmannes führen, der sich nur um seine Gäste, den Swimming Pool und sein 140 großes Hektar Anwesen mit Olivenhainen kümmert, aber er ist nun mal ein maniaco, ein Besessener, der wie David gegen die Lebensmittel-Goliaths kämpft.
"Die haben in Brüssel ihre Lobby und speisen Sie als Supermarktkundin mit Billigprodukten ab." Zu Pasqualis Öl-Offensive gehören nicht nur Seminare mit Feinschmeckern, sondern auch Kampagnen an der Basis. Erster Erfolg: "Einmal pro Woche gibt's für unsere Schulkinder statt industriellem Pausen-Snack wieder Öl aufs Brot, eine Delikatesse, von der unsere Vorfahren höchst gesund lebten."
"denken Sie die Stille im Kloster zurück!"
Der Mugello war immer eine arme Gegend, wo die Pächter, die Wald- und Bergarbeiter ein knappes Auskommen hatten. "Als Silvano und ich Ende der Sechziger heirateten, gab's noch die mezzadria, die Halbpacht", sagt die Bäuerin Marisa Maroncini in Caselle, "wir mussten die Hälfte der Ernte, Wein, Oliven oder Getreide, an den Baron in der alten Medici-Villa abgeben. Uns gehörte nicht mal das Haus." Erst 1971 wurde das mittelalterliche Pachtsystem abgeschafft. Trotzdem gaben noch mehr Bauern auf, verkauften ihre Häuser an Toskana-Deutsche, an Holländer und Engländer, die Sehnsucht nach dem Land der Zypressen hatten.
Marisa und Silvano, beide Ende 60, sind die letzten Landwirte auf dem Berg. "Das Haus ist gerichtet, die Zähne sind gerichtet", sagt Marisa, tutto bene! Tauben gurren auf dem Dach, 40 Schweine wühlen auf den Hausweiden, 50 Rinder grasen auf der Alm. Einen süßen Enkel haben sie auch. Nur, der Schwiegertochter war es zu einsam auf dem Berg. Und ob Sohn Maurizio Lust hat, den Hof zu übernehmen? "Die jungen Leute haben heute andere Ideen", sagt die Bäuerin.
Es ist Sonntag, der Tag des Herrn. Als ich aus dem Kloster Bosco ai Frati ins Freie trete, dringt von der Autorennbahn von Scarperia ein fernes Hornissengesurr, ein Summen und Aufjaulen, als ob man einer Katze auf den Schwanz tritt. "Brumm, brumm, brrriiiumm", imitiert Padre Giorgio den Motoren-Sound und lächelt milde. "Signora, denken Sie draußen in der Welt auch mal an die Stille im Kloster zurück!" Dann schließt er die schwere Pforte.