Alte Mühle in Valbona
Alte Mühle in Valbona
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Astrid Benölken / Tobias Zuttmann

Wandern in den Albanischen Alpen Der verführerische Duft von Pinien und wildem Thymian

Das Valbona-Tal ist für Wanderer ein Glücksfall – auch wegen der Gastfreundschaft von Familienbetrieben wie dem der Selimajs. Doch wie viele Besucher verkraftet das kleine Hochtal?
Von Astrid Benölken und Tobias Zuttmann

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An manchen Tagen, sagt Faria Selimaj, lebt sie im Paradies. Zu ihrem Gästehaus einige Meter vor dem Dorf Valbona kommt nur, wer eine kleine Holzbrücke überquert, unter der die türkisfarbene Valbona durchrauscht. Vögel zwitschern, zwei kleine Zicken springen über den Rasen, und ein roter Kater streicht Ankommenden um die Beine.

Hinter dem grauen Steinhaus der Selimajs ragen schroff die Albanischen Alpen in den blauen Himmel, die Gipfel noch von Schnee bedeckt. Das Gebirge, vor Ort auch Prokletije oder Bjeshkët e Nemuna genannt (übersetzt verfluchte oder verwunschene Berge), befindet sich an der Grenze zu Montenegro und dem Kosovo. Vom Massentourismus, unter dem der Balkan immer stärker leidet, ist diese Region bisher weitestgehend verschont geblieben.

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Albanische Alpen: Ziel für Wanderer und Klettererinnen

Foto: Astrid Benölken / Tobias Zuttmann

Gleich hinter dem Haus der Selimajs beginnt einer von zahlreichen Wanderwegen durch den Nationalpark. Es riecht nach Pinien und wildem Thymian, der zwischen Steinritzen und auf Felsabhängen wuchert, die Buchen werfen lange Schatten, und irgendwo gurgelt immer ein kleiner Bach, versteckt im löchrigen Karstgestein. Einige endemische Arten gibt es hier, also Pflanzen und Tiere, die nirgendwo sonst auf der Welt zu finden sind – und selbst im Hochsommer weitläufige Schneefelder.

Schmilzt der manchmal mehrere Meter hoch liegende Schnee im Mai und Juni langsam ab, öffnet sich eine der beliebtesten Wanderrouten über den Qafa e Valbonës, den Valbona-Pass, in den benachbarten Theth-Nationalpark. Dort gibt es Wasserfälle und einen Kulla e Ngujimit, einen gedrungenen Blutracheturm, der etwas über das jahrhundertealte ungeschriebene Gewohnheitsrecht der Region erzählt, den Kanun. Er legte fest, wie man sich einem Gast gegenüber verhält und wie einem Schuldner, bestimmte über Ehen, Erbe und vor allem die Ehre.

In Ausnahmefällen sah der Kanun die Blutrache vor: den Tod des Täters oder eines anderen Mannes aus der Täterfamilie als Ausgleich für einen Mord. Im Kulla e Ngujimit konnten sich die Betroffenen vor den potenziellen Blutrachenehmern schützen, bis ihre Familien eine Einigung erzielt hatten. Der Turm in Theth wird nicht mehr benutzt, doch in anderen Teilen ist der Kanun noch immer lebendig: Egal wo man hinkommt, wird man mit großer Gastfreundschaft empfangen.

Wer jung ist, verlässt die Hochtäler

Faria zeigt, wie wichtig ihr die Gäste sind, indem sie sich auch nach anstrengenden Tagen Zeit für ein Gespräch nimmt – und indem sie opulente Mahlzeiten für die Gäste kocht: selbst gebackenes Brot mit Kalbsfleisch, Olivengemüse und Kartoffelpüree, Huhn mit Pilaw und Bohnensuppe, zum Nachtisch Zitronenkuchen. Heute Abend soll es Fisch geben, den Farias Mann Arben und ein Nachbar in der Valbona gefangen haben.

Die Zahl der Besucher im Gästehaus der Selimajs  ist meist überschaubar, in manchen Nächten sind es nur zwei oder drei. Das liegt an Corona, aber auch daran, dass die Gegend noch kaum erschlossen ist für Urlauberinnen und Urlauber, obwohl inzwischen auch bekanntere Routen wie der Peaks of the Balkans Trail die Hochtäler der Albanischen Alpen kreuzen.

Von den Bären und Luchsen, die hier noch ihre Reviere haben, sehen Wanderer selten etwas; wer jedoch aufmerksam ist, kann handtellergroße Skorpione beobachten, die in Steinritzen lauern, und grün-blau schimmernde Eidechsen, die auf Felsen in der Sonne sitzen. Im Tal pflügen die Bauern mit Pferden und Ochsen die Felder oder hacken Holz für die langen Winter im Hochtal. Die größtenteils noch ungezähmte Natur und die ursprüngliche Lebensweise, die für die Besucherinnen und Besucher den Reiz von Valbona ausmachen, machen den Menschen vor Ort das Leben schwer.

Die Region gehört zu den ärmsten in Albanien, das wiederum eines der ärmsten Länder Europas ist. Abgesehen von Landwirtschaft und Tourismus gibt es kaum Möglichkeiten, in der Region Geld zu verdienen. Die Arbeitslosigkeit ist vor allem unter Jugendlichen hoch. Wer jung, gut ausgebildet ist und einen angemessen bezahlten Job haben möchte, verlässt die Hochtäler.

Zwei Jahre in Deutschland, Neuanfang in Valbona

Auch Arbens und Farias Sohn Gaz arbeitet seit einiger Zeit im Ausland, so wie etwa ein Viertel aller Albaner. Großbritannien bietet dem 22-Jährigen eine Perspektive, ist aber für Faria viel zu weit weg von Valbona. »Als er weggegangen ist, sind wir in Gaz' leeres Zimmer gegangen und haben einfach nur geweint«, erzählt sie. Ihre Tochter Elisa ist 20, auch sie weiß noch nicht, ob sie im Tal bleiben wird. »Aber schon noch ein paar Jahre«, schiebt sie rasch hinterher, als sie den Blick ihrer Mutter sieht, und nimmt sie in den Arm.

Auch Faria und Arben dachten lange nicht, dass ihre Zukunft im Tal liegt. 2013 versuchen sie mit ihren Kindern in Deutschland einen Neuanfang. An die Behörden während ihrer zwei Jahre in Zeitz im Süden Sachsen-Anhalts erinnern sie sich nicht gern, dafür umso lieber an die Menschen, denen sie während der Zeit dort begegnet sind. Kommen deutsche Gäste, kramt Faria die damals erlernten Vokabeln hervor und verabschiedet sie ins Bett mit einem »Eins, zwei, Polizei, drei, vier, Offizier, fünf, sechs, alte Hex', sieben, acht, gute Nacht!«

Als sie aus Deutschland nach Albanien zurückkamen, fühlten die Selimajs sich zunächst hoffnungslos. Dann hatte Arben die Idee mit dem Gästehaus. Faria war nicht gleich überzeugt – sie hatte vorher als Schneiderin gearbeitet, Arben als Polizist, keiner von ihnen wusste, wie man eine Herberge führt. Ihr Englisch war schlecht, »das war vielleicht so groß«, sagt Faria, zwischen ihren Zeigefinger und Daumen passt nicht einmal ein Börek. Wie sollen sie sich da nur mit Gästen aus aller Welt unterhalten?

Und das Haus, das sie im Tal kaufen, hat zu Beginn nicht einmal eine Tür. »Von drinnen konnte man durch das Dach den Himmel sehen. It was very kaputt«, sagt Faria und lacht. Doch als die ersten Gäste kommen, im Sommer 2016, ist alles anders: »Der Stress war wie weggeblasen. Es hat so gutgetan, nette Menschen kennenzulernen«, sagt Faria. In solchen Momenten fühlt sich das Tal ein bisschen weniger einsam an, ein bisschen mehr nach Zukunft. »Also habe ich zu Arben gesagt: Na gut, wir können es probieren, warum auch nicht?«

Ein mehrstöckiges Ufo mitten im Tal

Seit Farias »Warum auch nicht?« sind fünf Jahre vergangen. Fünf Jahre, in denen aus dem zerfallenen Haus ohne Dach am Rand des Dorfes zwei Häuschen mit Platz für bis zu 30 Gäste geworden sind. Das reicht, findet Faria. »Ich kümmere mich gern um die Menschen, die uns besuchen. Deswegen ist es gut, wenn nicht zu viele Gäste da sind. So, wie es jetzt ist, ist es genug.«

Die Sommer verlangen den Selimajs auch so viel ab. Faria steht an manchen Tagen schon um vier Uhr morgens in der Küche und brät zu Koranversen aus dem Radio Eier und Würstchen für Gäste, die den frühen Bus nach Tirana erwischen wollen, Arben fährt die Reisenden anschließend zur Haltestelle. Bis zum späten Abend gibt es selten einen freien Moment. Doch ihre Besucher erinnern sich an sie, manche schreiben Faria noch Jahre später Nachrichten per Handy, viele kommen wieder.

Francisco aus Portugal war einer der ersten Gäste der Familie, er war seitdem schon viermal wieder zu Besuch. Während Faria in der Küche steht und für die Gäste zum Abendessen Fisch, Börek, Gemüsesuppe und Bratkartoffeln kocht, angelt er aus dem Schrank die Gläser und deckt den Tisch für das Abendessen. »Seit ich 2016 das erste Mal hier war, sehe ich große Veränderungen«, erzählt er. »In ganz Valbona gab es damals nur wenige Gästehäuser und ein Restaurant, nur dort gab es auch WLAN – mobiles Internet hat im Tal nicht funktioniert.«

Inzwischen ist nicht nur der Empfang gut, fast jedes der Gästehäuser verfügt auch über eigenes WLAN. Und es sind einige Hotels, Herbergen und Campingplätze dazugekommen. Im Ortskern von Valbona ragt seit Kurzem ein grauer Koloss aus dem Boden, wie ein mehrstöckiges Ufo, das ins Tal gestürzt ist.

Neues Fünfsternehotel: Investoren aus Tirana entdecken die Schönheit des Valbona-Tals

Neues Fünfsternehotel: Investoren aus Tirana entdecken die Schönheit des Valbona-Tals

Foto: Astrid Benölken / Tobias Zuttmann

Ein Investor aus Tirana hat das angehende Fünfsternehotel hier hingebaut, berichtet Faria. »Vor drei Jahren haben hier nur Leute aus Valbona gebaut. Aber seitdem kommen Leute von überallher, kaufen Land und bauen«, erzählt sie später am Abend und klingt dabei besorgt. Viel Platz gibt es nicht im Talkessel, jedes neue Haus geht auf Kosten der Natur. »Es wäre besser, wenn wir hier nicht mehr bauen. Aber wenn Leute Geld haben, dann wollen sie mehr und mehr. Ich will nie so werden, Inschallah – nie!«, sagt Faria und schüttelt sich.

Eine Talsperre droht

Und da ist noch eine zweite Bedrohung, die das Tal für immer verändern könnte. Die Valbona, die sich nur wenige Meter hinter dem Haus der Selimajs mit lautem Donnern weiter ins Tal hinabstürzt, soll im unteren Teil aufgestaut werden. Wasserkraftwerke sollen Strom gewinnen, die Talbewohner aber würden davon kaum profitieren und nebenbei die Kontrolle über ihre Wasserressource verlieren.

Das Ökosystem der Region könnte langfristig Schaden nehmen und Touristen würden fernbleiben, befürchten Anwohner und Umweltschutzorganisationen. Etwa 70 Prozent der Menschen im Hochtal überlegen, aus diesen und anderen Gründen die Gegend zu verlassen, ergab eine Befragung des WWF.

Faria und Arben wollen bleiben – erst einmal. Das Haus mit dem einst kaputten Dach ist für sie zu einem Segen geworden. Mit Glück reichen die Einkünfte aus dem Sommer für das ganze Jahr, denn kommt der Winter, wird es ruhig im Hochtal. Der Kamin im Esszimmer unter der gerahmten Stickerei mit dem islamischen Glaubensbekenntnis läuft dann Tag und Nacht auf Hochtouren. Manchmal schneidet der Schnee die Zufahrtswege ab. Aber Gäste kommen zu dieser Jahreszeit ohnehin keine.

»Im Sommer gibt es selten einen Tag, an dem ich etwas länger schlafen kann. Wenn man die Tür für die Menschen öffnet, dann muss man sich auch um sie kümmern«, sagt Faria und unterdrückt ein Gähnen, es ist spät geworden. »Im Winter schlafe ich dafür den ganzen Tag.«

Anmerkung der Redaktion: In einer früheren Fassung haben wir geschrieben, dass die Bezeichnung Prokletije aus dem Albanischen stammt, es ist aber ein serbisches Wort.

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