Vézélay Startpunkt für Trendpilger

Was hat Hape Kerkeling da nur für eine Lawine losgetreten: Der Hype um dem Jakobsweg lässt neben Touristenmassen nun auch B-Promis fürs Fernsehen nach Erleuchtung und Selbstkasteiung streben. Anfangspunkt für die meisten deutschen Pilger ist das Örtchen Vézélay.

Vézélay - Im Licht der Morgensonne steigen Schwaden von Weihrauch in den hohen Chorraum auf. Ganz klein wirken die Mönche und Ordensschwestern in ihren weißen Gewändern, die im Altarraum auf Hockern sitzend in sich versunken scheinen. Einige Jakobspilger sind zum Morgengebet in die Basilika von Vézélay im französischen Burgund gekommen. Die Blicke wandern zu den Rundbögen hinauf, die hoch oben das schmal geschnittene Kirchenschiff überspannen. Für die einen ist es ein religiöses Erlebnis, andere genießen die schlichte romanische Architektur. Mehrstimmiger Psalmengesang erfüllt den Kirchenraum mit einer Atmosphäre, die alle Sorgen für eine Weile vergessen lässt.

"Hier spüre ich, wie ich zur Ruhe komme", sagt Erika Lüttke später auf dem Kirchenvorplatz, wo sich ihre Gruppe für die bevorstehende Tagesetappe sammelt. Die 70 Jahre alte Aachenerin wandert einen Teil des Pilgerwegs nach Santiago de Compostella. Der kleine Ort Vézélay ist für Pilger aus Deutschland ein traditioneller Ausgangspunkt. Hier beginnt eine der vier Hauptrouten des Jakobswegs durch Frankreich, die über Limoges führt, daher der lateinische Name Via Lemovicensis.

Trendsport Pilgerreise

"Es ist eine wichtige Erfahrung für mich", sagt die rüstige Dame, die Wanderstiefel trägt und Teleskop-Wanderstöcke dabeihat. "Ich möchte wissen, was ich körperlich noch schaffen kann. Aber es hat für mich auch mit meinem Glauben zu tun", erklärt sie. "Ich habe Zeit, mich mit mir selbst zu beschäftigen. Mir gibt das sehr viel", sagt die Protestantin, die sich zum ersten Mal zu einer Pilgerreise zu Fuß entschlossen hat. Seit der Komiker Hape Kerkeling ein Buch über seine Wanderung auf dem Jakobsweg veröffentlicht hat, erlebt das Fernwandern auf alten Pilgerwegen einen überraschenden Aufschwung.

Aber Vézélay zieht nicht nur moderne Pilger an, sondern auch Liebhaber romanischer Architektur. Die Basilika Sainte Marie-Madeleine, die zum Weltkulturerbe der Unesco gehört, ist einer der bedeutendsten Sakralbauten des frühen Mittelalters. Die auf einem Hügel thronende Kirche spricht ihre eigene Sprache. Ihr wichtigstes Baumaterial sei das Licht, heißt es in einer Beschreibung. Man muss sich auf die komplexe Symbolwelt des Mittelalters einlassen, um zu verstehen, welche Bedeutung das Bauwerk in seiner Zeit hatte.

Vom Dunkel zum Licht, vom Elend zur Erlösung, vom Heidentum zum Christentum - das sind die zentralen Aussagen des gewaltigen Kirchenschiffes. Der Besucher betritt zunächst eine düstere Vorhalle, die ihn in das lange Hauptschiff führt, dessen Rundbögen zum Chor hin fast unmerklich höher werden. Der Chor, der bereits frühgotische, leicht zugespitzte Bögen hat, verwandelt sich nach Sonnenaufgang in ein lichtdurchflutetes, scheinbar luftiges Gebilde.

Der eigentliche symbolische Reichtum der Basilika ist jedoch nicht in der Architektur, sondern in den Türbögen und Kapitellen zu finden. An den Übergängen zwischen Säulen und Gewölbe erzählen steinerne Figuren, Pflanzen und Tiere biblische Geschichten und erbauliche Anekdoten. Damals konnten nur wenige Menschen lesen und schreiben, aber die aus heutiger Sicht komplizierte Zeichensprache der Baukunst war durchaus auch Laien verständlich.

Moses und Paulus stehen im Schatten

Auf einem Kapitell in der linken Säulenreihe findet sich etwa eine Szene an einer Getreidemühle, die scheinbar den bäuerlichen Alltag illustriert. Zudem enthält das Kapitell eine religiöse Botschaft, die im Mittelalter weit verbreitet war - die der Erfüllung des Alten Testaments durch die Ankunft Jesus Christi: Links, im Schatten, steht Moses, die Leitfigur des Alten Testaments, rechts Paulus, Prophet des Neuen Testaments. Das Mühlrad ist das Symbol für Christus - es steht genau im Licht und besteht aus einem Kreis, dem Symbol für Vollkommenheit, der ein Kreuz umschließt.

Auch für Historiker ist Vézélay ein wichtiger Ort. Hier rief Bernhard von Clairveaux im 12. Jahrhundert im Beisein des französischen Königspaares zum zweiten Kreuzzug auf. Das dunkle Kapitel der Kirchengeschichte ist kein leichtes Erbe für die "Monastische Gemeinschaft von Jerusalem", die sich vor einigen Jahren in Vézélay angesiedelt hat. "Der Ort drohte, in die Esoterik abzudriften", erzählt Schwester Edith. "Wir wollten hier wieder Gottesdienst feiern und für die Pilger da sein." Heute leben 14 Schwestern und acht Mönche in der Ordensgemeinschaft nahe der Kirche, die auf einem mit Weinreben bedeckten Hügel zu thronen scheint.

Die örtlichen Pinot-Noir-Weine lassen sich hervorragend in einem der kleinen Gasthäuser probieren, passend zur deftigen burgundischen Küche. Sie ist zum Beispiel für Ochsenfleisch in Rotweinsoße oder Weinbergschnecken in Kräuterbutter bekannt.

Wer Vézélay in der Nebensaison besucht, hat gute Chancen, eines der hübschen Zimmer im mittelaterlichen Ortskern zu bekommen, der weitgehend autofrei ist. Das "Maison des Glycines" etwa, das von gleichnamigen Blüten überrankt ist, stammt aus dem 18. Jahrhundert. Neben Terrakotta-Fliesen und dicken Holzbalken bietet es aus seinen Dachzimmern herrliche Ausblicke auf die Ziegeldächer und die Fassade der Basilika im warmen Abendlicht.

Ulrike Koltermann, gms

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