
Valle Verzasca: Einsame Winterwanderung durchs Tal
Mein Lieblingswinterziel Valle Verzasca, ein Tal zum Abtauchen
Valle was? "Valle Verzasca!", wiederholte meine Kollegin energisch. "Da müsst Ihr hin. Ist bestimmt auch im Winter schön." Der Plan war, zu zweit über die Feiertage in Ascona abzutauchen, in der Ferienwohnung einer entfernten Tante. Schweizer Komfort und italienisches Flair am Lago Maggiore. Mildes Klima - fernab des deutschen Winterweihnachtstrubels.
So dachten wir - und stapften direkt aus dem Busbahnhof in knöcheltiefen Schnee. So bekam "abtauchen" noch eine ganz andere Bedeutung. Wie schön, dass unsere Wanderstiefel zu Hause im Trockenen standen.
Egal. Nach vier Tagen gemächlicher Erkundung sämtlicher Sehenswürdigkeiten und Cafés wachten wir mit einem überraschenden Bedürfnis auf: Ertüchtigung! Bewegung! Schwung! Dies war der Tag fürs Valle Wieauchimmer. Die Winterschuhe werden schon halten.
Wunderbar unkompliziert ging es mit den Schweizer Bussen über Locarno nach Lavertezzo. Dort krümmt sich eine alte Steinbrücke über den Gebirgsfluss Verzasca. Klar und türkisgrün leuchtet das eisige Wasser, das die rundgeschliffenen Felsbrocken umfließt. Über die Brücke gelangen wir auf den Wanderweg am anderen Ufer. Es kann losgehen: ein Marsch durch unberührten Schnee.
Plätschernde Rinnsale, der rauschende Fluss, unsere knirschenden Schritte - sonst ist kein Mucks zu hören. Die Schuhe halten. Um uns das wilde Tal, über uns die Gipfel, die gleich vom Fluss weg bis zu 2400 Meter hoch in den Himmel ragen. Hin und wieder sehen wir kleine Dörfer mit den grauen Rustici - den typischen Steinhäusern der Gegend.
Schreck am abgerutschten Hang
Einsam war es immer schon im Tessiner Valle Verzasca. Wie an so vielen abgelegenen Gegenden zogen Fortschritt und Wirtschaftsbooms auch an diesem Tal vorbei. Die wenigen Menschen dort hielten Weidevieh, bauten Granit ab oder betrieben ein wenig Handwerk. Viele wanderten im späten 19. Jahrhundert nach Amerika aus. Wer blieb, lebte vom allmählich aufblühenden Tourismus. Heute sind es vor allem Wanderer, die auf den 300 Kilometern Wegenetz durch das Tessiner Tal ziehen.
Im Winter bleiben auch diese fern. Die meisten zumindest. Wir genießen die Einsamkeit sehr. Weiter entfernt von Weihnachtsmärkten, Marzipanbergen und überheizten Wohnzimmern können wir uns kaum fühlen. Die Schuhe halten immer noch. Es geht am Fluss entlang, der Atem wird weiß in der kalten Luft, unter der dicken Jacke verrichtet der Körper meditativ seinen Dienst.
Bis plötzlich unser Weg abbricht. Ein Wasserfall hat, vom Berghang herabstürzend, ein Loch in den Wanderpfad gerissen. Zwei Meter breit, eiskaltes Wasser, keine Brücke, nur ein paar dicke Steine, die herausragen und sich als Trittfläche anbieten. Oje. Jetzt bloß nicht abrutschen. Stattdessen trete ich daneben - und lande auf dem Bachbett. Wie blöd kann man sein! So war das mit dem Abtauchen nun auch nicht gemeint! Der Fuß ist feucht, das Hosenbein nass. Was nun?
Die nächste Hängebrücke ist unsere. Wir queren den Fluss und marschieren stramm auf der Straße weiter, bis wir hier, in dieser hintersten Ecke der Schweiz, an eine kleine Kneipe kommen. Gelbwarmes Licht und würziger Kaminduft dringen durch die Tür nach draußen - wir stürmen das Lokal.
Drinnen schauen ein paar Einheimische unbeeindruckt auf. Wärme umfängt uns, als wir uns aus Mänteln und Mützen schälen. Ob wir auch die Schuhe ausziehen und die Füße am Feuer trocknen dürfen? Dürfen wir. Und einen Obstler bekommen wir noch dazu. Herrlich, jetzt die Augen zu schließen und dem Feuer beim Knistern zuzuhören. Der nächste Bus fährt erst in einer Stunde - genau vor der Kneipentür. So, genau so, fühlt Abtauchen sich gut an.