

Großbritannien zu Fuß 11.000 Kilometer, 147.000 Höhenmeter und viel wilde Küste
SPIEGEL: Mr. Lake, Sie sind fünf Jahre lang immer wieder an die Küste gereist und haben die britische Insel in Abschnitten von bis zu neun Wochen zu Fuß umrundet. Haben Sie etwas Neues über Ihre Heimat gelernt?
Lake: Sie ist viel wilder, als ich gedacht hatte. Nur fünf Prozent der Fläche Großbritanniens sind bebaut, das ist eine Fläche so groß wie das kleine County Gloucestershire, in dem ich lebe – und außerhalb der Städte geht kaum jemand zu Fuß. In England habe ich mal zwei Tage lang keinen Menschen getroffen, in Schottland waren es sogar vier oder fünf Tage. Das hat mich sehr überrascht.
SPIEGEL: Gab es noch mehr Überraschungen auf Ihrer insgesamt 454 Tage dauernden Tour?
Lake: Ja, die Verbindung, die die Leute zu ihrer Umgebung haben, ist viel extremer, als ich mir vorgestellt hatte. Es fühlt sich mehr wie eine Ansammlung von Stammesgebieten an, die sich sehr stark voneinander unterscheiden. Und das nicht nur zwischen Wales, Schottland und England. Auch rechtlich gibt es große Unterschiede innerhalb Großbritanniens: Ich war mit meinem Zelt unterwegs und bin viel über Weiden gelaufen. In England musste ich immer so tun, als ob ich mich verlaufen hätte, und mein Zelt nachts im Wald verstecken. In Schottland war das kein Problem, dort fühlte ich mich zu Hause.
SPIEGEL: Sie sind doch aber Engländer?
Lake: Ja, aber ich hatte dort das Gefühl, das Land gehöre mir genauso wie den Schotten. Eben weil ich das Recht hatte, überall herumzulaufen. Man muss sich nicht an einen Fußweg halten. Und solange man es verantwortungsvoll tut, darf man überall zelten – man fühlt sich als Erwachsener einfach respektiert. Wenn du dort wanderst, kletterst oder Rad fährst, erlebst du ein großes Freiheitsgefühl.

SPIEGEL: Wie unterscheiden sich die britischen »Stämme«, wie Sie sagen, voneinander?
Lake: Zumindest der Dialekt änderte sich während der Wanderung fortwährend: Von Nordwales nach Liverpool etwa dauert es nur einen halben Tag, und am nächsten war ich schon im County Lancashire – und so hört man drei sehr extreme Dialekte. Aber wie freundlich die Menschen waren, das hing weniger von der Region ab als vielmehr davon, wie abgeschieden sie leben. In den abgelegenen Gebieten Schottlands haben Kleinbauern oder Fischer oft lange Zeit mit niemandem gesprochen. Dort hatte ich wirklich schöne, tiefgründige Begegnungen mit Menschen, die über ihr Leben erzählt haben. Wenn sie nicht mehr da sind, wird auch diese Art zu leben Vergangenheit sein. Die Jungen sind längst alle weggezogen.
SPIEGEL: Im April 2015 sind Sie an der St.-Pauls-Kathedrale in London zu Ihrem Projekt »The Perimeter« (Der Umkreis) gestartet, gut ein Jahr später begannen die Vorbereitungen für den Brexit. War dies auch Gesprächsthema unterwegs?
Lake: Ich glaube, die Leute waren das Thema schon sehr früh leid – und ich auch. Ich bin überhaupt nicht mit dem EU-Austritt einverstanden, aber so ist die Abstimmung eben gelaufen. Wenn ich mit politisch interessierten Menschen gesprochen habe, dann in Schottland über die schottische Unabhängigkeit, in Wales über die walisische Unabhängigkeit. Selbst in Cornwall sprach man darüber. Ansonsten neigen alle dazu, eher über ihre Nachbarn zu reden: Die Einwohner von Essex sprachen darüber, wie hochnäsig jene in Suffolk sind, oder Leute aus Yorkshire sagen, dass die Welt endet, wenn man über die Grenze nach Lancashire geht. Ich wiederum habe nichts von diesen zeitgenössischen Dingen als relevant empfunden.
Haben Sie sich in den vergangenen Monaten zu Fuß, per Rad oder Boot auch auf eine längere Tour gemacht – eine mehrtägige oder vielleicht sogar mehrwöchige? In der Coronakrise sind Reisen in andere Länder und vor allem Städtetrips kaum möglich, da bieten sich Fernwanderungen oder Fernradstrecken als Alternative an. Schildern Sie uns Ihre Erlebnisse und schreiben Sie eine Mail an reise@spiegel.de, Betreff: Langzeit-Abenteuer.
Mit der Einsendung erklären Sie sich bereit, dass wir Ihre Erlebnisse unter Ihrem Namen veröffentlichen. Wir behalten uns vor, Beiträge zu kürzen.
SPIEGEL: Wieso das?
Lake: In gewisser Weise erscheinen sowohl Brexit als auch Covid-19 im Vergleich zum Rest der Reise ziemlich belanglos und sehr vergänglich. Was ich unterwegs gesehen habe, waren die Manifestationen der Geschichte in der Landschaft – alles hatte mit den Wikingern oder den Normannen oder dem Zweiten Weltkrieg zu tun. Die physische Form der Landschaft selbst wurde durch die Geologie von Jahrtausenden geformt, durch Verwerfungen im Gestein, auf denen sich dann die Pflanzen ansiedelten. Diese Dinge habe ich vor allem gesehen und gefühlt.
»Das Fotografieren des Horizonts über dem Meer gerät zu einer Art akademischer Übung.«Quintin Lake
SPIEGEL: Sie schreiben in Ihrem Blog, dass sich ein Spaziergang entlang der Küste wie ein wunderschön orchestriertes Musikstück anfühlt – was meinen Sie damit?
Lake: Es war nie langweilig. Wenn ich vier oder fünf Tage durch eine raue, abgelegene und dramatische Landschaft gelaufen bin, kam wieder ein geschichtlich interessanter Abschnitt oder eine charmante Stadt oder ein Hinweis auf einen Film oder etwas ganz anderes. Mit der Topografie ändert sich die Stimmung – also der Rhythmus – ständig. Auch meine Fotografie musste ich daran anpassen.
SPIEGEL: Wie haben Sie das gemacht?
Lake: An der Südküste Englands etwa verändert sich die durch Menschen geformte Umgebung extrem schnell: Auf eine Tudor-Verteidigungsanlage folgt ein Golfplatz, dann sieht man Surfer – und das innerhalb von drei Stunden. In Schottland dagegen ist die Landschaft oft drei, vier Tage oder ein paar Wochen lang immer ähnlich. Statt um das urbane Leben ging es da um Elementares. Ich dachte mehr über das Wetter, das Licht und die Komposition nach als über die Geschichten der Menschen. Als Fotograf wird man dann sensibler für die feinen Unterschiede, und das Fotografieren des Horizonts über dem Meer etwa gerät zu einer Art akademischer Übung.
SPIEGEL: 11.000 Kilometer zu Fuß sind ja nicht ohne. Was hatten Sie im Gepäck?
Lake: Ich hatte 16 bis 22 Kilogramm im Rucksack – je nachdem, wie viel Wasser und Lebensmittel ich benötigt habe. Dass ich im Zelt geschlafen hatte, war eine Sparmaßnahme: Es wäre horrend teuer gewesen, etwa 450 Übernachtungen für das Projekt bezahlen zu müssen. In vielen Gegenden aber hätte es auch keine Unterkünfte gegeben. So konnte ich mein Zelt an interessanten Stellen aufstellen und musste für diese fürchterlich frühen Fünf-Uhr-Sonnenaufgänge nur den Zeltreißverschluss hochziehen. Was ich nicht mehr missen möchte, ist meine selbst aufblasbare Luftmatratze – vielleicht liegt es an meinem Alter, aber ich fand sie sehr komfortabel. Auch ein schneller Gaskartuschenkocher war unverzichtbar. Sie wissen ja, wie sehr die Briten ihren Tee lieben.
»Mitten in einem Hagelsturm sah ich einen großen Regenbogen – wie in ›Herr der Ringe‹.«Quintin Lake
SPIEGEL: Worauf können Langstreckenwanderer denn gut verzichten?
Lake: Klappstühle auf alle Fälle. Und schwere Wasserflaschen. Ich habe eine Einmal-Plastikflasche zwei Jahre lang genutzt. Generell auch Ausrüstung, die für vier Jahreszeiten ausgelegt ist. Drei-Jahreszeiten-Zelte etwa sind viel leichter, man muss sie nur wind- und wettergeschützt aufstellen. Wanderstöcke wiederum sind für solche Touren, wie ich sie gemacht habe, wichtig: Unterwegs erlitt ich wegen Überbeanspruchung eine Sehnenverletzung und konnte mit den Stöcken weiterhüpfen. Ich hätte sonst einen Hubschrauber benötigt.
SPIEGEL: Ihr Lieblingsplatz?
Lake: Knoydart, eine abgelegene Halbinsel im Nordwesten Schottlands, erreichbar mit der Fähre vom Hafen Mallaig. Die Topografie ist stark zerklüftet, daher gibt es dort keine Straßen und nur ein Dorf. Oben sah ich mitten in einem Hagelsturm einen großen Regenbogen – wie in »Herr der Ringe«. Ich habe die Nächte in den Wanderhütten, den Bothies, verbracht und dort wirklich interessante Reisende getroffen. Wir haben Feuer gemacht und uns über unser Leben unterhalten. Mit manchen bin ich immer noch im Kontakt.
SPIEGEL: Jetzt in der Coronakrise ist das Reisen außerhalb des eigenen Landes kaum möglich. Da trifft Ihr »Perimeter«-Projekt ja den Nerv der Zeit?
Lake: Ja, ich denke schon. Wer nach Reisezielen in Großbritannien sucht, findet in Guides oder im Internet immer die gleichen zehn Ziele – darunter etwa Loch Lomond. Oder die drei höchsten Berge in Schottland oder England, wie den Scafell Pike im Lake District – einer der hässlichsten Berge überhaupt, der aus einem Haufen Felsbrocken besteht und schwer zu begehen ist. Dennoch ist er der beliebteste, weil er der höchste Englands ist. Dort sah ich eine Schlange an Wanderern, die sich rauf- und runterzog. Dabei war ich an so vielen schönen Orten, die völlig menschenleer waren und sonst vielleicht eher übersehen wurden. Ihnen konnte ich durch meine Fotografie Aufmerksamkeit und Liebe schenken. Ich hoffe, dass mein Projekt Reisende ermutigt, sich selbst so etwas zu überlegen, um diese weniger bekannten Ziele zu besuchen.