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300 Tage Inselleben: Ein Vulkan, das Meer und die eigene Stimme im Kopf

Foto: Xavier Rosset

300 Tage einsam im Pazifik "Ich vermisse alles"

Monatelang nichts als Fisch und Kokosnüsse, bewaffnet mit Taschenmesser und Machete - Xavier Rosset hat 300 Tage auf einer einsamen Insel im Pazifik gelebt. Auf dem winzigen Fleck Erde fand der Sinnsucher jedoch keine überwältigende Erkenntnis. Sondern kämpfte ums Überleben.
Von Monika Hippold

Nach 24 Stunden im Paradies verzweifelt Xavier Rosset. Acht Stunden harrt er mit der Angel am Meer aus, doch kein Fisch beißt an. Er klettert auf Kokospalmen, und rutscht doch an deren glattem Stamm immer wieder ab. Ohne Wasser, ohne Essen, ohne Freunde und 22.000 Kilometer entfernt von allem, was er kennt, zweifelt der 32-Jährige plötzlich an seinem großen Traum: dem Leben auf einer einsamen Insel.

"Ich wäre vor Hunger fast gestorben", sagt der Schweizer heute über die ersten Tage auf Tofua im Südpazifik. In Ruhe und Abgeschiedenheit, fernab von Lärm, Menschen und Vergnügungen wollte er als Eremit eigentlich dem Sinn seines Lebens auf die Schliche kommen. Ihn hatte - wie so viele moderne Aussteiger - der Inselmythos gepackt, und er sehnte sich nach Sandstrand, Korallenriffen, Kokosnüssen - und vor allem nach Zeit.

"Ich wollte mich selbst besser kennenlernen, viel nachdenken und herausfinden, was ich im Leben wirklich will", sagt er. Statt wie andere zur Selbstfindung drei Wochen auf dem Jakobsweg zu wandeln, suchte der Abenteurer die Erkenntnis in einem Leben wie vor 300 Jahren, zehn Monate lang.

Rosset liebt die Extreme. Bis er ausstieg, hatte sich der 1,92 Meter große Profisportler mit den besten Snowboardern der Welt bei waghalsigen Rennen gemessen. Er feierte rauschende Partys, hatte ständig viele Freunde um sich. Acht Jahre lang war der Mann mit den kurzen dunklen Haaren, dem runden Gesicht und den strahlenden Augen schon mit derselben Frau liiert - doch auf Sinnsuche ging er alleine: "Dann bist du gezwungen, dich mit dir selbst zu beschäftigen", sagt er.

"Es gibt nichts zu essen - es ist fürchterlich"

Eine Machete, ein Schweizer Taschenmesser, ein Erste-Hilfe-Set, ein Satellitentelefon und eine solarbetriebene Ladestation für die Kamera: Mit diesem Gepäck zieht Rosset im September 2008 von Verbier im Schweizer Kanton Wallis nach Tofua. Das menschenleere Eiland ist eine von 176 Inseln und Atollen des Königreichs Tonga. Mitten im Südpazifik gelegen, 50 Kilometer entfernt von der nächsten Stadt, wurde die Vulkaninsel vor 50 Jahren von den letzten Bewohnern verlassen.

Rossets einziger Kontakt zur Außenwelt ist das Telefon, so kann er zur Dokumentation der Reise alle zwei Wochen eine Nachricht auf einen Anrufbeantworter in der Schweiz sprechen. Die ersten Eindrücke hinterlässt er bereits nach 24 Stunden: "Es gibt hier nichts zu essen oder zu trinken. Ich vermisse alles, es ist fürchterlich." Gleichzeitig dreht er über seinen Aufenthalt in der Einöde einen Film, der in verschiedenen Städten Deutschlands ab dem 10. Oktober im Rahmen der European Outdoor Film Tour  zu sehen sein wird (Trailer siehe linke Spalte).

"Tofua - meine Insel", so nennt Rosset heute liebevoll seine Kurzzeit-Heimat. "Doch die Insel war ganz anders, als ich sie mir erträumt hatte." 54 Quadratkilometer groß, dichter Wald, in der Mitte ein mächtiger, aktiver, schwarzer Vulkan - kein Sandkorn weit und breit, messerscharfe Steine bilden den Weg zum Meer.

Um sich heimischer zu fühlen, baut er sich eine Hütte. Äste bilden das Gerüst, Rinde nutzt er als Seile, das Dach steckt er aus heruntergefallenen Palmenblättern zusammen. Nach zweieinhalb Tagen steht sein Domizil: ein Unterschlupf, drei Meter breit, vier Meter lang und gerade hoch genug, dass er darin stehen kann.

Selbstgespräche gegen die Einsamkeit

Die Idylle hält bis zum ersten Regenguss. Rosset hetzt in sein Heim, doch nach wenigen Minuten unterm Palmendach ist er klitschnass. Die Hütte ist nicht wasserdicht. Er muss die Palmenblätter erst Zentimeter um Zentimeter miteinander verweben, wie es ihm ein Fischer gezeigt hat. Keine Sache von Tagen, sondern von sechs Wochen.

Nach den Schwierigkeiten zu Beginn kehrt mit der Zeit Routine in Xavier Rossets Inseldasein: Er geht fischen, reinigt Wasser, knackt Kokosnüsse. Sind die Grundbedürfnisse gestillt, schlägt sich der Mann mit der Machete einen Pfad durch den Wald oder klettert auf den glühenden Vulkan. "Es sah dort aus wie auf dem Mond", sagt er.

In den ersten Tagen dehnt er sich noch jeden Morgen bei gymnastischen Übungen. Doch das Wurzelnausgraben und Holzsammeln zehrt schnell all seine Kraft auf. Auch wird das tägliche Einerlei Rosset bald zu langweilig, die Einsamkeit nimmt ihm all seine Motivation. Er rafft sich nur noch zum Nötigsten auf. "Warum sollte ich Feuer machen? Ich war alleine und konnte schöne Dinge mit niemandem teilen."

Viele Fragen drehen sich in seinem Kopf, er beginnt, laut zu reden. Doch da ihm niemand widerspricht, führen die Diskussionen zu nichts. "Manchmal kommst du von alleine einfach nicht auf eine Antwort." Nach einer Woche ertönt seine Stimme nur noch selten - wenn er der Insel, dem Vulkan oder dem Ozean seine Gedanken mitteilt.

Handoperation per telefonischer Anweisung

Das karge Leben in der Isolation birgt Gefahren: Stürme kommen auf, zweimal erschüttert ein Erdbeben den Zufluchtsort. An den scharfen Steinen am Strand reißt sich Rosset immer wieder Hände und Füße blutig. Einige der Wunden infizieren sich, seine Finger schmerzen, so dass er 20 Tage lang nur noch eine Hand bewegen kann. Er angelt zwar noch, doch die meisten Fische entwischen ihm. Kokosnüsse fallen als Nahrung aus, denn er kann nicht mehr klettern.

"Ich hatte Angst, dass ich an der Infektion sterben würde", sagt Rosset. Deswegen holt er sich per Satellitentelefon Rat von seinem Arzt in der Schweiz. Der Mediziner erklärt ihm genau, wie er die Verletzungen vorsichtig mit einer desinfizierten Nadel säubern und sich die Hand selbst verbinden kann. Seine Selbst-Operation funktioniert, die Wunde heilt.

Rosset zählt dennoch die Tage. Jeden Morgen ritzt er mit dem Taschenmesser eine zwei Zentimeter lange Markierung in eine Kokospalme. "Sonst hätte ich nach zwei Wochen nicht mehr gewusst, wie lange ich schon dort war", sagt er. Zu ähnlich sind die Tage, auch wenn sie Überraschungen bergen.

Unverhofft bringt ihm nach einigen Monaten mitten im Niemandsland der Fischer einen Gefährten auf die Insel: "Sugar", einen kleinen weißen Hund mit zwei schwarzen Flecken um die Augen. Der Hund folgt ihm in den Wald und zum Fischen. "Sugar veränderte mein Leben komplett." Als er einen Begleiter hat, akzeptiert Rosset seine Abgeschiedenheit allmählich - und schließt kurze Zeit später erneut Freundschaft. Ein Baby-Wildschwein geht ihm in die Falle. "Piggy" ist winzig, behaart, mit Stupsnase, einfach zu putzig zum Verspeisen und bleibt zwei Monate bei ihm.

"Eine tolle Erfahrung. Aber ich werde so etwas nicht noch einmal tun"

Ende Juni 2009 geht Rosset zurück in die Zivilisation. Nach einem 28-stündigen Flug warten am Flughafen in Genf rund 50 Freunde auf den Heimkehrer. Sie erkennen ihn kaum: Er hat 18 Kilo abgenommen, seine Haare sind gewachsen, ein dichter Vollbart bedeckt sein Gesicht. Die Freunde singen und tanzen zur Begrüßung, spielen auf Gitarren und Trommeln. Überwältigt von seinen Gefühlen schließt Rosset seine Freundin Nataly nach 300 Tagen wieder in die Arme. Endlich ist der Mann, der die Einsamkeit gesucht hatte, nicht mehr alleine.

Heute verdient Rosset sein Geld mit Vorträgen über sein Leben auf Tofua und führt im Winter Touristen durch die heimischen Alpen. Seine Gedanken während des Insellebens hat er auf 295 Seiten in einem Tagebuch festgehalten. Was ihm auch nach seiner Rückkehr bleibt, ist ein Gefühl der Zufriedenheit. Er nehme nichts mehr persönlich, er renne nicht mehr wie alle anderen, sondern nehme sich Zeit für die wichtigen Dinge im Leben: "Freunde, Familie und Glück", so Rosset.

Das Wichtigste, was er in seiner Zeit als Einsiedler gelernt hat, ist jedoch: "Man soll seine Träume realisieren." Seinen großen Traum hat der Schweizer gelebt, doch eine traumhafte Zeit war sein Tofua-Aufenthalt nicht. "Es war eine tolle Erfahrung. Aber ich werde so etwas nicht noch einmal tun."

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