Allein unter Bayaka Der Riesenpygmäe

Tanz in Kangabe: Musik ist ein wichtiger Bestandteil des Bayaka-Lebens
Foto: Dominik BaurAm Anfang war die Musik. Und sie steht auch noch heute im Mittelpunkt. Wir befinden uns tief im zentralafrikanischen Regenwald; in einem kleinen Pygmäendorf sitzt ein Mann, Anfang 50 wird er sein, in einer ärmlichen Holzhütte, packt einen tragbaren CD-Spieler und zwei kleine Lautsprecher aus der Truhe, in der er seine Habseligkeiten verwahrt, und legt Musik auf - Pygmäenmusik. Um das offene Fenster der Hütte schart sich ein halbes Dutzend Kinder. Sie beginnen, sich rhythmisch zu den Klängen zu bewegen. Ab und an brechen sie in kurzes Gelächter aus, wenn etwa der Gesang des eigenen Vaters zu hören ist. Auch der Mann lauscht mit verträumtem Blick dem Trommeln und Jodeln und Schreien, das er selbst vor Jahren aufgenommen hat.
Der Musikliebhaber, der da, bekleidet mit schäbigen Shorts und einem bedruckten T-Shirt, in seiner Hütte sitzt, heißt Louis Sarno, stammt aus New Jersey, ist weiß und 1,90 groß. Und damit wären auch schon die wesentlichen Unterschiede zu den übrigen Einwohnern von Kangabe aufgezählt, einem jener Pygmäendörfer, die wie kleine Satelliten um die Bantu-Gemeinde Bayanga im Südwesten der Zentralafrikanischen Republik herumschwirren. Denn der Amerikaner gehört inzwischen zu ihnen, ein Zugereister zwar und ein bunter Vogel, aber doch ein akzeptiertes Mitglied der Dorfgemeinschaft der Bayaka, wie sich die hiesigen Pygmäen nennen. Sie sprechen ihn mit "Louis" an, längst nicht mehr mit "patron", der gängigen Anrede für Weiße.

Fotogalerie: Jagdszenen im Regenwald
"Was ich vorher gemacht habe? Eigentlich nichts", behauptet Sarno. "Mein Leben hat erst begonnen, als ich hierher gekommen bin." Und das ist jetzt 19 Jahre her. Angefangen hat die Geschichte in Amsterdam. Dorthin war er seiner damaligen Frau, einer Holländerin, von den Vereinigten Staaten aus gefolgt, doch die Ehe hielt nur kurz. Zu jung waren sie, zu verschieden, das Übliche eben. Sarno blieb dennoch in Holland hängen, schlug sich mit Jobs durch, unterrichtete Englisch, arbeitete in einer Wäscherei. Bis er in einer Winternacht schließlich zu Hause saß und dieses Lied im Radio hörte: eine der seltenen Aufnahmen von Pygmäenmusik.
Musik hatte Sarno schon immer begeistert. Beethoven und Schubert waren seine Lieblingskomponisten. Auch afrikanische Musik interessierte ihn. Doch solche Gesänge hörte er zum ersten Mal. Die Bayaka haben ihn mit ihrer Musik sofort in ihren Bann gezogen - und nie wieder losgelassen.
"Diese Musik faszinierte mich einfach", sagt er, "ich weiß auch nicht warum. Vielleicht ist sie so besonders, weil es eine sehr alte Art von Musik ist. Es ist die Musik der Jäger. Wir waren alle einmal Jäger. Womöglich spricht das etwas Ursprüngliches an, was wir alle noch in uns haben."
Bald schon stand der Entschluss: Er würde die Pygmäen selbst besuchen und seine eigenen Aufnahmen der wundersamen Klänge machen. Schließlich saß er im Dezember 1985 mit einem One-Way-Ticket im Flugzeug nach Bangui. Von der Hauptstadt der Zentralafrikanischen Republik aus, so dachte er sich, waren am schnellsten interessante Pygmäenkulturen zu erreichen.
"Wollen Sie einen Tee? Ich habe Darjeeling." Mit Hilfe eines kleinen Campingkochers setzt Sarno Teewasser auf. Dann lässt sich der Mann mit dem kahlen Kopf und dem schmalen Oberlippenbart wieder auf dem Stuhl am Fenster nieder. Gemütlich dreht er sich einen Joint. "Das Zeug rauchen die hier alle", erklärt er. "Wahrscheinlich schon seit Jahrhunderten."
Die Hütte des Amerikaners steht etwas abseits, doch sobald Sarno sein Fenster öffnet, scheint es, als spiele sich das ganze Dorfleben just vor diesem Fenster ab. Die Erwachsenen kommen auf einen kleinen Schwatz vorbei, für die Kinder ist es ihr liebster Spielplatz. "Das ist mein Sohn", stellt Sarno plötzlich einen der Jungen vor dem Fenster vor. "Ngbanda. Er ist jetzt 15." Ngbanda ist jedoch bereits von zu Hause ausgezogen. Er wohnt jetzt mit ein paar anderen Jugendlichen zusammen - eine WG à la Bayaka, untergebracht in einer Laubhütte.
Warum die Leichtigkeit des Seins in Kangabe nur allzu erträglich ist und sonst unerträgliche Zeitgenossen im Wald zu den nettesten Menschen werden: Lesen sie mehr im zweiten Teil!

Anfangs war es eine Geschichte der Enttäuschung: So richtig im Wald würde er mit ihnen leben, hatte sich der amerikanische Reisende gedacht. Abseits jeglicher Zivilisation. Stattdessen landete er hier am Rande eines Bantu-Dorfes mit rund 3000 Einwohnern, größtenteils Arbeitern der nahe gelegenen Holzfabrik. Der erste Mensch, dem er begegnete, als er eines Nachts in Bayanga aus dem Buschtaxi stieg, war eine weiße Frau, die auf dem Fahrrad an ihm vorbeifuhr.
Auch musikalisch erwies sich die abenteuerliche Exkursion zunächst als Reinfall. Als Sarno bei den Bayaka ankam, erlaubten sie ihm zwar zu bleiben - aber zunächst nur vorübergehend und nur gegen Bares. Auch die Musik gab es nur, solange er den Pygmäen reichlich Palmwein spendierte. Sarno erinnert sich noch heute mit Grausen daran. "Das war nur Partymusik", schimpft er. Irgendwann, seine Ersparnisse waren zum größten Teil bereits für Palmwein draufgegangen, ließ er seinen Frust ab: "Ich gehe. Ihr könnt ja gar nicht richtig musizieren. Ihr wollt nur Alkohol."
Das saß. Am Abend zeigten sie es ihm dann. Der weiße Musikliebhaber hatte sich gerade in seiner Lehmhütte schlafen gelegt, als er draußen plötzlich reges Treiben hörte. Das Dorf erwachte mitten in der Nacht. Die Bayaka inszenierten eine große Tanzzeremonie. "Sie haben mir vorher nicht Bescheid gesagt. Sie haben einfach damit begonnen und dann bis zum nächsten Morgen getanzt und gesungen", erzählt Sarno. "Diese Musik war fantastisch. Völlig anders als das, was sie mir davor vorgesetzt hatten." In dieser Nacht wurde dem Amerikaner klar, dass sein Besuch bei den Pygmäen wohl noch sehr lange dauern würde. "Danach war es sehr schwer, ans Weggehen zu denken."
Inzwischen hat es begonnen, in Strömen zu regnen. "Ich liebe dieses Wetter", sagt Sarno, nachdem er die Dachluke seiner Hütte geschlossen hat. "Wir sind jetzt am Anfang der Trockenzeit. Die Trockenzeit ist sehr langweilig - besonders hier im Dorf. Im Wald ist es viel angenehmer."
Auch den Wald sollte er nach seiner ersten Enttäuschung dann doch noch kennen lernen. Zwar verbringen die Bayaka einen Großteil des Jahres in ihren Dörfern, doch machen sie sich von dort regelmäßig in den Regenwald auf. Mal kommen sie nach wenigen Wochen wieder, manchmal bleiben sie auch Monate. Der Wald ist das Lebenselixier der Pygmäen. Hier sind weit und breit keine Bantu, die sie im Dorf so oft drangsalieren und zu Sklavendiensten heranziehen. Nahrung gibt es in Hülle und Fülle. Die Männer gehen auf die Jagd, die Frauen sammeln Blätter und Früchte. Nachts bauen sie sich mit Zweigen und Laub ihre Hütten mitten im Wald. "Es ist einfach eine großartige Atmosphäre", schwärmt Sarno. Und die Leute sind wie ausgewechselt. "Im Wald gibt es keinen Alkohol. Manch einer, den du im Dorf für das größte Arschloch gehalten hast, weil du ihn immer nur betrunken erlebt hast, entpuppt sich im Wald plötzlich als der netteste Mensch."
Doch es waren nicht nur Musik, Wald und Leute, in die sich Sarno verliebt hatte, sondern vor allem eine Frau. Ngbali heißt sie, und die erste Begegnung mit ihr ist dokumentiert: "Plötzlich bemerkte ich, dass Mbina ein wunderschönes Mädchen entlauste, das ich noch nie zuvor gesehen hatte. Ich fragte mich, wie um alles in der Welt sie mir hatte entgehen können. Wer war sie? Sie saß in der typischen Stellung der Frauen da, direkt auf dem Boden, die Beine gerade nach vorne gestreckt, und trug nur einen gletscherblauen Slip. Sie starrte in die leere Luft und hatte einen verträumten Ausdruck in den Augen, während Mbina ihr durchs Haar fuhr und die Läuse zerknackte." So zumindest steht es in "Der Gesang des Waldes" geschrieben, einem etwas kitschigen Buch, das Sarno Anfang der Neunziger veröffentlicht hat.
Heute spricht Sarno nicht mehr allzu gern darüber - weder über das Buch, noch über seine Beziehung zu Ngbali. Vieles sei übertrieben gewesen. Der Verlag habe es so gewollt. Aber er habe sich wirklich in eine Bayaka verliebt und sie geheiratet. Obwohl sich Ngbali nach ein paar Jahren für einen anderen Mann entschieden hat, behielt Sarno zu ihr ein enges Verhältnis. Den 15-jährigen Ngbanda hat er zum Teil mit Ngbali aufgezogen. Er ist jedoch nicht ihr leiblicher Sohn, sie haben ihn nach dem Tod seiner Mutter, Ngbalis Schwester, adoptiert.
Der Regen hat aufgehört. Sarno verlässt seine Hütte und schlendert rüber zum Mbanjo, dem Versammlungsplatz der Männer. Drei der Jüngeren sind gerade dabei, aus einem Metallzylinder und einem Antilopenfell eine Bongotrommel zu fertigen. Am Abend soll es eine Trauerzeremonie für einige verstorbene Dorfälteste geben. Doch bei allem Ernst wird auch dies eine fröhliche Feier sein. Die Bayaka, so hat man den Eindruck, können nur fröhlich.
Es ist diese Leichtigkeit des Seins, mit der die Bayaka Sarno angesteckt haben. "Ich bin hier einfach lebendiger", sagt er. "Ich bin lieber im Hier und Jetzt, als dass ich mir Gedanken über die Zukunft mache oder irgendwelchen alten Zeiten nachhänge." So lebt auch Sarno jetzt fast nur noch von der Hand in den Mund - hier etwas Geld, das ihm Touristen zustecken, da eine kleine Überweisung von seinem Bruder.
Vielleicht muss man mit den Bayaka im Wald gelebt haben, um ihr Wesen wenigstens ein bisschen zu verstehen. "Dieser Lebensstil und der Reichtum des Waldes gibt ihnen ihre Spontaneität", vermutet Sarno. "Sie müssen sich nicht den Kopf darüber zerbrechen, was sie morgen essen werden."
Pygmäen können den Wald lesen wie unsereins ein Buch, Bücher jedoch so wenig wie unsereins den Wald. Immerhin: Einige der Jüngeren können von einer Digitaluhr die Zeit ablesen. Ausgerechnet die Zeit. Dabei bedeutet gerade sie den Bayaka nicht viel: Keiner von ihnen kann sein genaues Alter sagen. Auch ihre Geschichte ist unbekannt; anders als andere Urvölker haben Pygmäen nie irgendwelche archäologischen Spuren hinterlassen. "Der Wald verschluckt alles", sagt Sarno.
So wird am Ende vielleicht nichts übrig bleiben von der Kultur der Bayaka, die sich immer mehr ihrer Umwelt anpassen. Nichts außer ein paar CDs, auf denen ein Amerikaner ihre einzigartigen Lieder verewigt hat.