Arktis Das schmelzende Paradies
Arctic Bay - Emily Emudluk ist nicht schüchtern. Forsch tritt die junge Inuit ans Mikrofon und erklärt, was Kattajjaq ist: "Früher, wenn die Männer wochenlang auf Eisbären- und Narwaljagd waren, haben wir Frauen zu Hause nicht nur gearbeitet." Die Zuhörer spitzen die Ohren, und Emily lächelt: "Wir haben auch Spaß gehabt." Dann stellt sie sich so dicht vor ihre Freundin Mae Ningiuruvik, dass sich die Gesichter der Mädchen fast berühren. Und nun vernehmen die Zuhörer, die mit dem Schiff in der kanadischen Arktis unterwegs sind, Geräusche, die sie diesen Teenagern mit den Punkfrisuren nie zugetraut hätten. Rhythmisches Hecheln und Grunzen erfüllt den Raum.
Kattajjaq, der Kehlgesang der Inuit, ist Austausch von Atem und Tönen und muss so flüssig sein, dass beide Sängerinnen wie eine klingen. Schnell finden Emily und Mae den Takt und geben Klänge wie aus der Urzeit von sich. Dabei sind ihre Minen so gelöst, dass man ahnt, dass Kattajjaq auch Nähe und Vertraulichkeit bedeutet - bis eine der beiden die Konzentration verliert, so wie jetzt Emily. Lachend tritt sie wieder ans Mikrofon. "Sobald man denkt, ist's aus", sagt sie.
Ureinwohner üben Tourismus
Wer sich auf eine Arktis-Reise mit dem Schiff begibt, lernt die Kultur der Inuit aus erster Hand kennen. Das von den Ureinwohnern im Norden Québecs betriebene Unternehmen Cruise North Expeditions will den Tourismus in der Arktis ankurbeln und dabei junge Inuit in touristischen Berufen ausbilden.
Die dazu gecharterte "MV Lyubov Orlova", ein 100 Meter langes, zu Sowjetzeiten gebautes Schiff, dient als schwimmendes Seminar. Zwischen den Orten Resolute und Kuujjuaq lernen Emily, Mae und ihre Altersgenossen Tourismus "on the job", und abends sprechen sie über ihre Kultur. Mit Luxusdampfern hat die "Orlova" nichts gemein: Die Einrichtung der Kabinen erinnert eher an den hausbackenen Modernismus der späten Sowjet-Ära. Umso aufmerksamer aber ist das russische Personal. Und die Küche ist einfach, aber gut.
Wettergegerbte Biologen und Ornithologen übersetzen das Erlebte. So werden aus "diesen pinguinähnlichen Vögeln" Dickschnabel-Lummen und aus dem Wasser unter der "Orlova" der Eingang zur legendären Nordwestpassage. Devon Island, erklärt Expeditionsleiter Brad Rhees, sei die größte unbewohnte Insel der Welt: ein 66.000 Quadratkilometer großer, lebensfeindlicher Felsen, auf dem Nasa-Forscher Trainingsprogramme für Expeditionen zum Mars ausprobieren.
Flimmerkiste statt Robbenjagd
In Arctic Bay, einer nur selten von Schiffen besuchten Siedlung an der Nordspitze von Baffin Island, versammelt sich das halbe Dorf am Strand, um die "Hallunaq", die Weißen, zu sehen. Die greise Leona Aglukark kneift die Augen zusammen: "Ich wurde im Winterlager meiner Familie geboren. Damals jagten unsere Männer Robben, und wir Mädchen gerbten Häute", sagt sie. Doch die Zeiten haben sich geändert: "Heute gucken unsere Jugendlichen lieber Satellitenfernsehen." Leona seufzt und trippelt - auf ihren Enkel gestützt - nach Hause.
Tatsächlich sind die Probleme der Arktis unübersehbar: Arbeitslosigkeit, Bevölkerungsexplosion, Klimaerwärmung. "Als ich vor drei Jahren hier war, reichte er noch bis dort", sagt Joseph Jonas und zeigt zehn Meter hinter sich auf den Sermilik-Gletscher, eine der Attraktionen des neuen Sermilik National Park auf Bylot Island. Durch eine Art Mondlandschaft stapfen die Touristen zur Gletscherzunge. Joseph, als Geleitschutz vor Eisbären engagiert, verbirgt seine Sorge nicht: "Damals war die Bucht voller Eisberge."
Warmer Sommer bei einem Grad Celsius
Im Auyuittuq National Park gehen die Arktis-Fahrer wieder an Land. Die Tundra zu Füßen der wild gezackten Berge strahlt hier in allen Wildblumenfarben. Joseph hat frische Eisbärenspuren entdeckt und begleitet die Gruppe mit dem Gewehr im Anschlag. Geela Kooneeliusie, die für den Nationalpark arbeitet, bückt sich und pflückt die Blätter der "Qungulit"-Pflanze, einer arktischen Buchweizenart: "Schmeckt süß. Wächst nur im Sommer, wenn es warm ist wie jetzt", sagt sie. Es ist gerade mal ein Grad Celsius plus - für Geela ein warmer Sommertag.
Zur ersehnten Begegnung mit Eisbären kommt es auf Akpatok Island. Die unbewohnte Insel ist Heimat der größten Lummen-Kolonie der Welt. Mindestens eine Million dieser schwarzweißen Alkenvögel nistet in den 250 Meter über den Schlauchbooten aufragenden Kalksteinwänden. Dabei stürzt so manches Ei in die Tiefe - direkt in die Mäuler der unten patroullierenden Eisbären. Brad Rhees braucht nicht lange, um eine Bärin und ihre zwei Sprösslinge auszumachen. Bis auf 50 Meter gleitet das Schlauchboot mit ausgestelltem Motor an das Trio heran, dann hebt die Bärin ihren mächtigen Kopf, steckt die feuchte Nase in den Wind und starrt herüber. Doch sie wendet sich wieder ab. Die Schlauchboote sind für sie keine Gefahr - und auch keine Mahlzeit.
Ole Helmhausen, dpa