
Polarmeer-Bildband: Fotos zum Dahinschmelzen
Polar-Bildband Frau Seamans Gespür für Eis
Fast vier Jahre lang ist Camille Seaman nicht ins Polarmeer gefahren. Nun war sie gerade für zwei Wochen doch wieder im Eis. In Alaska. Weiter nach Norden oder in die Antarktis hätte sie es "emotional nicht geschafft", sagt sie. "Aber etwas in mir zieht mich immer noch dorthin."
Um eins gleich klarzustellen: Seaman ist kein Künstlername. Die US-Fotografin Camille Seaman heißt wirklich so - als hätte sie keine andere Wahl gehabt, als das Wasser zu ihrem Thema zu machen. Über die Familie ihres Vaters gehört sie zu einem alten indianischen Fischerstamm, den Shinnecock. Es war ihr Großvater, der ihr mit auf den Weg gab, dass sie Teil eines Kreislaufs sei: Wasser, Schweiß, Tränen, Wolken, Ozeane, alles gehöre zusammen.
Über eine Dekade lang zog Camille Seaman jedes Jahr vom sonnigen Kalifornien aus los und verbrachte einige Monate auf Containerfrachtern und Forschungsschiffen. Von Mai bis September in der Arktis, im Herbst und Winter dann in der Antarktis, "wie eine arktische Schwalbe", sagt sie.
Mit an Bord waren Meeresbiologen, Klimaforscher und Geologen. Seamans Job war, fotografisch zu dokumentieren, was sie sah: Eisberge, Gletscher, noch mehr Eisberge. Bei Orkanen der Windstärke zwölf krallte sie sich auch mal nachts an der Reling fest, um ihre Bilder zu machen. Ihre Beziehung ging in die Brüche, ihre Tochter sah sie fast nie. Sie machte trotzdem weiter.
Und 2011 hörte sie auf einmal auf, bis heute war sie nicht mehr dort. Weiter als Alaska traute sie sich nicht. "Ich fürchte mich davor, was ich dort sehe und wie ich darauf reagiere", sagt sie.
Die Farbenpracht der Eisberge
Den Grund versteht man, wenn man sich durch ihren nun auf Deutsch erschienenen Fotoband "Vom Ende der Ewigkeit" blättert. Wer bislang beim Wort Arktis zuerst Schattierungen von Schneeweiß vor Augen hatte, dürfte überrascht sein. Die Welt, die Seaman zeigt, ist türkis, azur, petrolfarben, pastellblau, rauchschwarz.
Eisberge, die quasi Schulter an Schulter nebeneinander durchs Meer gleiten. Eisberge, die verkrustet glitzern wie Kandiszucker. Eisberge mit schwarzen Streifen von den Gesteinsschichten, über die sich der Gletscher Äonen lang geschoben hat. Eisberge, die sich in klarstem Wasser spiegeln, mit Brocken, die sich zu lösen scheinen. Eisberge mit derart tiefen Klüften, dass man denkt, man kann das Schmelzwasser senkrecht ins Polarmeer rinnen sehen.
Der Blick auf diese Landschaften war seit 1999 Camille Seamans Leben. Dass sie überhaupt dazu kam, war Zufall. Fotografiert hatte sie seit ihrer Zeit auf einer Kunstschule, aber sie arbeitete als Radkurierin, stellte Perlenschmuck her. Bis ein Flug überbucht war - und sie als Wiedergutmachung einen Freiflug bekam. Nach Alaska. Ein Aha-Erlebnis. Bald darauf war sie jedes Jahr im Eis.
Vergängliche Schönheit
Aber erst als sie die Veränderungen nicht mehr übersehen konnte, zehn Jahre später, machte Camille Seaman eine 180-Grad-Wende. "All die Jahre dachte ich, ich fotografiere einfach nur einen unfassbar schönen Teil unseres Planeten - bis mir klar wurde, dass ich nicht festhielt, was wir haben, sondern was wir gerade verlieren", erzählt sie.
Diese wachsende Ehrfurcht sieht man ihren Bildern an. "Ich warte, bis ich etwas spüre. Wie ein Geigerzähler. Erst dann hebe ich die Kamera. Und frage mich: Ist es das, was dieses Gefühl bei mir auslöst?" In all den Jahren hat sie nur 100.000 Aufnahmen gemacht. Zwölf bis 16 Stunden am Tag sei sie auf dem Schiff umhergelaufen und über knirschende Schollen, durch Eislandschaften.
Sie weiß, wie naiv es klingt, so lange nicht über die Schmelze nachzudenken: "Ich hatte keine Ahnung vom Klimawandel. Ja, die Forscher, mit denen ich unterwegs war, sprachen zwar davon, aber das Ausmaß war mit nicht bewusst." Auf den Bildern ab 2009 tauchen immer mehr Eisbären in ihren Bildern auf, Walrosse, Pinguine. Weil sie sah, wie sehr sich der Lebensraum der Tiere und damit deren Möglichkeiten, zu existieren, veränderten.
"Mein Herz war gebrochen"
Wenn sie über die Kämpfe spricht, die sie seitdem mit sich austrug, bebt ihre Stimme vor Emotion, selbst heute noch. "Ich musste mir eingestehen, dass ich Teil des Klimawandels geworden war", erklärt sie. "Ich sagte mir: Du fliegst 12.000 Meilen, dann fährst du wochenlang auf einem Schiff, das Diesel verbrennt. Welches Recht hast du dazu? Denkst du, du hast einen Freifahrtschein, nur weil du Fotografin bist?" Irgendwann kapitulierte sie vor ihrem Gewissen, ein Jahr lang habe sie wie unter einer dunklen Wolke gelebt. "Ich war so unglücklich, mein Herz war gebrochen."
In dieser Zeit fotografierte sie Stürme statt Eisberge. Auch Extremwinde seien ja letztlich nichts weiter als Wasser, erklärt sie - und ihre gestiegene Häufigkeit ebenfalls Ausdruck für ein sich wandelndes Weltklima. Sie überlegte, ein nachhaltiges Dorf zu gründen, zog in ein komplett regenerativ funktionierendes Haus und baute ihr eigenes Gemüse an.
Camille Seaman hat nun ihren Frieden damit gemacht, dass sie Teil des Klimawandels sein muss, um auf seine Dramatik aufmerksam zu machen. "Ich verstehe mich als Botschafterin", sagt sie. "Ein Foto hat Macht. Es ist ein historisches Dokument, ein Beweis dafür, dass das, was es zeigt, einmal existierte." Auch deswegen wird sie bald doch wieder losziehen, zu den schmelzenden Polkappen. "Dort zu sein befriedigt meine Seele. Ich bin eben im wahrsten Sinne des Wortes bipolar."
Das Buch:
Camille Seaman: "Vom Ende der Ewigkeit. Eine Reise durch bedrohte Polarwelten" , Prestel 2015, 160 Seiten, 29,95 Euro.