
Nunavuk am Polarkreis: Survivallektionen der Inuit
Ausflug zu den Inuit F(r)isch aus der Röhre
In Iqaluit ist es das Schlauste, das zu tun, was einem der "Iqaluit Visitors Guide"empfiehlt. Das hat viele Gründe. Einige davon haben mit Überleben zu tun, was nicht wirklich überrascht. Iqaluit (Inuktitut für "viele Fische") liegt nämlich auf Baffin Island, und Baffin Island liegt knapp unterhalb des Polarkreises. Auf dem amerikanischen Kontinent ist dies, in Abwesenheit des Golfstroms, gleichbedeutend mit Arktis unmittelbar vor der Haustür.
In "Viele Fische" gesellen sich kalte Füße dazu. "Quijunga", zu deutsch "Mir ist kalt", zitieren wir also von Seite vier der offiziellen Broschüre und zeigen dabei auf unsere Füße. Guide James Nookiguak nimmt unsere Winterstiefel (".. für lange Schneetouren bei extremen Außentemperaturen!") in Augenschein und sagt dann etwas auf Inuktitut zu seinem Kollegen. Dieser bricht in schallendes Gelächter aus, wir gucken betreten.
Die gute Laune der beiden hat aber nichts mit unserer Ausrüstung zu tun haben: Der Monat Mai sei bei ihnen "Upingaaq", erklärt James auf Englisch, die Zeit, in der das Eis in der Frobisher Bay taut und es wieder wärmer wird. Dass wir also im arktischen Frühling kalte Füße hätten, sei wirklich komisch. Während James den "Qamutiq", den Schlitten für uns Gäste, hinter seinen Motorschlitten hängt, werfen wir einen Blick auf die Bay.
Die Sonne scheint, der Himmel ist wolkenlos blau, doch die Gezeiten haben das Eis zu meterhohen, kreuz und quer verstreuten weißen Stapeln emporgedrückt. Für uns sieht Tauwetter anders aus. Wir bringen deshalb unser nächstes Wort aus der Broschüre an und fragen vorsichtig nach "Kamik", traditionellen Inuit-Stiefeln. Kein Problem. Als wir mit James zum Eisfischen aufbrechen, stecken unsere Füße in Seehundfell. Nie war uns wärmer.
Warme Füße in Fell
Wer sich einen ersten Überblick über die Hauptstadt von Nunavut verschaffen will, dem empfiehlt der Besucherführer die Road to Nowhere. Die "Straße ins Nichts" beginnt in einer anonymen Reihenhaussiedlung hoch über der Stadt und versickert wenige Kilometer später auf der anderen Seite des Bergrückens in der Tundra.
Von der Straße aus sieht man die ganze Stadt. Den Flughafen mit seinem knallgelben Abfertigungsgebäude, den Hangars, Workshops und Vorratslagern im Westen. "The Apex", eine Siedlung, die in Iqaluit "Vorstadt" genannt wird, im Osten, und den mehr oder weniger ansehnlichen Häuserbrei, in dem die knapp 7000 Menschen wohnen, dazwischen.
Als Kanada Nunavut im Jahr 1999 von den Northwest Territories trennte und den Inuit als eigenes Territorium überließ, war die Hoffnung auf Selbstbestimmung groß. 14 Jahre später sind diese Träume zerstoben. Drogenmissbrauch, Arbeitslosigkeit und Kriminalität liegen so weit über dem nationalen Durchschnitt, dass die kanadische Tageszeitung "Globe and Mail" schon vor zwei Jahren fragte, ob das Projekt Nunavut gescheitert sei.
Regierung und Verwaltung sind die einzigen Arbeitgeber von Bedeutung. Und ein zaghaft blühender, nunmehr professioneller organisierter Tourismus. Hundeschlittentouren, Skilanglauf und Schneeschuhwandern im Winter, Hiking, Trekking, Angeln und Tierbeobachtung im Sommer: In Zusammenarbeit mit dem Tourismusministerium von Nunavut bieten eine Handvoll Ausrüster und gemeinnütziger Organisationen, Arktisfeeling und Inuit-Kultur, gebündelt in Drei-Tages-Programmen. Und dies in gerade einmal drei Flugstunden von Montréal und Ottawa entfernt.
Oh und Ah am Eisloch
Während "Upingaaq" ist Eisfischen angesagt. Als wir nach 40 Kilometer Schaukelei auf einem kleinen See aus dem "Qamutiq" klettern, treffen wir Ainaq Atsiqtaq. Zunächst nimmt der alte Herr keine Notiz von uns. Reglos liegt er im Schnee, die Kapuze über den Kopf gezogen, das Gesicht über einem Loch im Eis und die Augen mit der rechten Hand vor der Sonne schützend. Mit der linken, sie hält ein Stück Holz mit Angelschnur, fischt er. Auf und ab zuckt sie, ausschlagend wie ein Geigerzähler, und begleitet von Ainaqs leisen "Ohs" und "Ahs", die unter der Kapuze zu uns hinauf dringen.
"Das ist besser als Gottesdienst", sagt er in Anspielung auf den heutigen Sonntag, als er uns begrüßt. "Ich muss sehen, was ich fange", fügt er strahlend hinzu und nickt zu seinem Motorschlitten hinüber. Acht prächtige arktische Saiblinge hat Ainaq bereits aus dem See gezogen. Wir legen uns zu ihm und schauen tief in sein Loch - und in eine andere Welt. Über einen Meter dick ist das Eis, die Wände der Röhre sind blauweiß marmoriert. Tief unten sind, oooh, aaah, dunkle Schatten zu erkennen, die Ainaqs Blinker inspizieren.
James schleppt Eisbohrer herbei - Handbohrer für die Gäste und einen Motorbohrer. "Falls Ihr schlappmacht", grinst er. Wie lange dauert es, mit Muskelkraft ein Loch in meterdickes Eis zu treiben? An unserem dritten Tag in der kanadischen Arktis fühlen wir uns dieser Herausforderung gewachsen. Am ersten Tag haben wir eine Hundeschlittentour in den Tarr Inlet unternommen. Bei Steigungen liefen wir neben den Schlitten her und staunten über die nimmer müden Hundegespanne. Wir erlebten, wie die Sonne hinter den Wolken verschwand, die Temperatur jäh um 15 Grad sank und die bis dahin freundliche Arktis plötzlich ihre Muskeln zeigte.
Am zweiten Tag bauten wir ein Iglu, gerieten dabei ins Schwitzen und lernten die wichtigste Überlebenslektion der Inuit am eigenen Leib: nicht schwitzen, weil man in dieser Kälte nicht wieder trocken wird und das tragisch enden kann.
Muktuk aus Walhaut
Ein Loch werden wir also schon noch hinbekommen. Doch weit gefehlt. Die Bohrerei schlaucht, nach 30 Minuten haben wir gerade mal einen halben Meter geschafft. "Qanuippit?", fragt James besorgt, "alles klar?" Ohne unsere Antwort abzuwarten, wirft er den Motorbohrer an. Während Ainaq ein paar Meter weiter alle fünf Minuten einen Fisch aus dem Loch zieht, gucken wir während der nächsten Stunden buchstäblich in die Röhre.
Womit wir beim Essen wären. Auf Seite 20 empfiehlt der "Iqaluit Visitors Guide", unbedingt die traditionelle Inuit-Küche zu probieren. Wie ihre Vorfahren mögen auch moderne Inuit vor allem Karibu, Seehund und Saibling. Und Muktuk, einen traditionellen, vitaminreichen Energiehappen aus Fett und Haut vom Wal, den James auf dem Rückweg nach Iqaluit reicht und der im Mund auftaut und entfernt nach Urin riecht.
Wir wollen Muktuk wirklich mögen. Angestrengt kauen wir auf dem Zeug herum, doch rechte Begeisterung stellt sich nicht ein. James Nookiguak sieht, dass dies der Moment ist, seine Schutzbefohlenen zu motivieren. "Heute Abend gibt es Hamburger", grinst er, "vom Moschusochsen. Gut?" Ja gut, das hilft. Man ist halt, was man isst.