Busfahren in Vietnam Wahnsinn auf vier Rädern

Touristen haben keinen Grund, in Vietnams Hauptstadt Hanoi Bus zu fahren. Ein Taxi kostet selbst in entlegene Vororte höchstens drei Euro, dazu kommen Tausende Moped-Taxis. Wer ein wahres Abenteuer erleben will, steigt trotzdem in den Bus. Und wird das niemals vergessen.
Von David Frogier de Ponlevoy

Wer in Hanoi Bus fahren möchte, sollte sich beeilen. Vietnamesische Busfahrer haben es eilig. Sie halten nicht gerne. Und wenn, dann halten sie nur sehr kurz. Zwei, drei Sekunden, meist kommt der Bus gar nicht richtig zum Stehen, dann fährt er schon wieder an. Als Fahrgast sollte man sich an das Gefühl gewöhnen, dass einem beim Ein- oder Aussteigen der Boden unter den Füßen weggerissen wird.

Busfahren in Vietnam ist nichts für alte Leute. Allerdings ist Vietnam ein sehr junges Land: 60 Prozent der Bevölkerung sind unter 30 Jahre jung. Einwandfrei klappt allerdings das Prinzip, dass jüngere Fahrgäste für ältere aufstehen. Das mag mit der hohen Stellung des Alters in asiatischen Kulturen zusammenhängen. Vermutlich sind aber einfach alle anderen Fahrgäste nur beeindruckt, wenn es ein alter Mensch überhaupt an Bord geschafft hat.

Ein Grund, weshalb die Fahrer überhaupt rasen können, sind die Kontrolleure. Ein Chauffeur muss keine Tickets verkaufen, das macht der Mitarbeiter für ihn. 3000 Dong kostet eine Fahrt, umgerechnet: 15 Cent. Sollte der seltene Fall auftreten, dass die Tickets kontrolliert werden, ist nicht der Schwarzfahrer schuld, sondern der Kontrolleur. Das wiederum erklärt, warum volle Busse auch gerne mal an einer Haltestelle vorbei fahren: Wenn der Kontrolleur keine Chance sieht, sich zu dem zahlenden Gast vorzudrängeln, ist es erst gar nicht nötig, die Tür zu öffnen. Außerdem hat man es, wie gesagt, eilig.

"Wir fahren direkt zur Endhaltestelle"

Vietnam ist eigentlich das Land der Mopeds. Gerade mal 200.000 Autos und 400.000 Lastwagen gibt es landesweit. Die restlichen Fahrzeuge sind Zweiräder: allein 20 Millionen Mopeds. Auf den vierspurigen Verkehrsadern von Hanoi herrscht ein heilloses Gewusel. In der Großstadt sieht man etwa 20 bis 30 Mopeds pro Auto. Dabei kommt der Verkehr mit drei Regeln aus. Erstens: Wer hupt, hat Vorfahrt. Zweitens: Wer schneller ist, biegt zuerst ab. Drittens: Wer größer ist, gewinnt. Im Vergleich zu einer großen Straßenkreuzung in Hanoi wirkt der Arc-de-Triomphe-Kreiselverkehr in Paris wie eine verkehrsberuhigte Zone.

Es ist die Regel Nummer drei, die das Busfahren in dem Chaos aus querschießenden, durcheinander fahrenden Mopeds zum Trumpf macht. Jeder Mopedfahrer hier weiß: Busfahrer sind verrückte Leute, halte dich fern von Bussen. Außerdem sind sie größer als du. Auch deswegen kommen Busse erstaunlich schnell voran.

Die Ausnahme sind Staus. Ein Stau bedeutet in Hanoi, dass sämtliche Mopeds auf der Suche nach einem freien Platz auch auf die Bürgersteige ausweichen und jegliche auch nur erdenkliche Lücke besetzen. In diesem Fall geht für Busse nichts mehr. Dann passiert es auch schon mal, dass bestimmte Viertel überhaupt nicht angefahren werden. "Wir fahren direkt zur Endhaltestelle", sagt beispielsweise dann Kontrolleur Vinh lächelnd. "Alle anderen Fahrgäste bitte aussteigen."

Der 20-jährige Vinh fährt nicht selbst, aber er verteidigt alle Busfahrer Hanois: "Wir haben Zeitlimits. In 55 Minuten müssen wir die Runde gedreht haben. Andernfalls drohen Bußgelder. Eigentlich ginge das auf den meisten Strecken nur, wenn wir garniemanden in den Bus lassen, sondern direkt durchfahren."

Ein vietnamesischer Busfahrer verfügt de facto über die uneingeschränkte Macht in seinem Bus. Er bestimmt beispielsweise das Musikprogramm. In öffentlichen Bussen wird deswegen sehr oft Radio gespielt. Oder Musik. Meist traditionelle Lieder. Wenn man Pech hat auch mal Sarah Connor. Die Sängerin gehört offensichtlich zu den wenigen deutschen Exportschlagern, die es bis nach Vietnam geschafft haben.

Didudel-didadel-didum-Mööp

Im Grunde aber ist der Fahrgast durchaus froh über ein wenig Musik. Sie übertönt nämlich den Verkehr. Vor allem die Hupe. Eine Hupe ist essentiell in Vietnam. Sie ersetzt den Blinker, das Bremslicht und sämtliche deutschen Verkehrsregeln. Busfahrer hupen besonders gerne. Vor allem, wenn ihr Bus nicht nur über eine simple Hupe verfügt, die "Mööp" macht, sondern über ein ausgefeiltes "Didudel-didadel-didum-Mööp". Solche Huptöne dauern oft mehrere Sekunden und büßen dadurch eigentlich an Warneffekt ein. Es bleibt das Geheimnis vietnamesischer Busfahrer, warum gerade diese Hupen mit Vorliebe ununterbrochen gedrückt werden.

Insgesamt ist Hanoi erstaunlich gut von Bussen erschlossen. Es gibt 56 sich kreuzende und teilweise parallel fahrende Linien, die laut Plan im Abstand von zehn Minuten fahren. Auf den Ausfallstraßen in die Vororte existieren sogar eigene Busspuren. Da sich in Vietnam niemand an Busspuren halten würde, funktionieren diese nach einem ganz einfachen System: Sie werden so schlecht instand gehalten, dass jedes kleinere Fahrzeug schlicht keine Lust hat, darauf zu fahren.

Für Touristen stellt sich trotz dieser Vorteile das Problem, dass die Buspläne auf Vietnamesisch schlecht zu entziffern sind. Einheimische sind gegenüber Touristen aber erstaunlich freundlich. Busfahrende Touristen sind noch seltener als busfahrende Großmütter. Ein wertvoller Insider-Tipp lautet: "Wenn ein Bus sehr spät kommt, gab es irgendwo einen Stau. Oft kommt dann der folgende gleich hinterher. Der erste ist voll, der zweite leer." Gestärkt mit diesem Wissen lässt man nach 20 Minuten Wartezeit einen vollen Bus an sich vorbeirauschen und wartet. Nach weiteren 20 Minuten sagt die Tipp-Geberin: "Normalerweise klappt es." Abermals 15 Minuten später kommt tatsächlich der erwartete Bus. Und hinter ihm drei weitere derselben Linie.

Doch der erste Busfahrer will die wartenden Fahrgäste nicht an Bord lassen und deutet auf die drei Busse dahinter. Als Busfahrer hat man es schließlich eilig.

Vietnamesische Busfahrer selbst bestreiten übrigens, dass sie verrückt fahren. "Schau genau hin", sagt Tuan Anh. "Die anderen fahren alle verrückt!" Es gehört wohl in der Tat eine gewisse Ruhe dazu, an vier Stellen gleichzeitig nach Mopeds Ausschau zu halten. Die Mopedfahrer folgen einer gerissenen Taktik: Da jeder weiß, dass man vor einem Bus gefährlich fährt, ist dort meistens Platz. Also nichts wie hin. Busfahrer Tuan Anh erzählt schließlich auch, dass zu spät kommende Busse in Wirklichkeit meist gar nicht mit Bußgeldern belegt werden – sondern mit Überstunden. "Eigentlich dürfen wir nur 24 Tage im Monat arbeiten. Meist arbeiten wir 29 oder 30. Viele von uns sind deswegen oft müde." Und dann fügt der 32-Jährige hinzu: "Manchmal schlafe ich deswegen auch einfach kurz hinter dem Steuer." Es gibt Dinge, die will man gar nicht so genau wissen.

Dann stoppt Tuan Anh den Bus. Er hält fünf Minuten. Nicht wegen einer Haltestelle, sondern weil er noch auf der anderen Straßenseite das Abendbrot für die Familie kaufen muss. Es lohnt sich wirklich, in Vietnam Bus zu fahren.

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