Chile In der Atacama-Wüste sind Superlative Nebensache
San Pedro de Atacama - In Eile sind sie nicht, aber ein Ziel scheinen sie doch vor Augen zu haben: Gemächlich überquert eine Gruppe Lamas im hellem Sonnenlicht die schnurgerade Straße, offenbar auf der Suche nach Nahrung. Wählerisch dürfen die Tiere nicht sein - nur wenige Pflanzen, die sich schmecken lassen könnten, überstehen das Klima der Atacama-Wüste in Nord-Chile.
Als Basis für Ausflüge bietet sich San Pedro de Atacama an, ein 2000-Seelen-Nest und Grenzposten zum wenige Dutzend Kilometer entfernten Nachbarstaat Bolivien. Rund um eine weißgetünchte Kirche aus dem 17. Jahrhundert schmiegen sich hier einstöckige, überwiegend lehmfarbene Flachbauten aneinander. Auf den staubigen Gassen treffen sich Einheimische und Abenteurer aus aller Welt, auch zahlreiche wilde Hunde streunen umher. Von fast jedem Punkt aus ist der Licancabur zu sehen: ein rund 5900 Meter hoher Vulkan, der durch seine Ebenmäßigkeit aus der Bergkette heraussticht.
Frühere Kulturen, die Inkas etwa, hätten auf dem schneebedeckten Gipfel des Licancabur Menschen geopfert, erzählt Reiseführerin Patricia. Jedenfalls seien dort oben Leichen gefunden worden. Eine Tour in die Berge sollten Besucher, die große Höhen nicht gewohnt sind, allerdings besser nicht am ersten Reisetag antreten. Schon im rund 2450 Meter über dem Meer gelegenen San Pedro wird ihnen der geringe Sauerstoffgehalt in der Luft gelegentlich die Puste rauben. Stattdessen bietet sich zunächst ein Ausflug zum unmittelbar südlich des Ortes gelegenen Salar de Atacama an, einem rund 100 Kilometer langen und bis zu 60 Kilometer breiten Salzsee.
"Es gibt hier so viel Salz, dass Sie nach ein paar Tagen selbst den Schnee auf den Bergen für Salz halten", sagt Patricia, während sich der Kleinbus mit den Urlaubern über eine holprige Piste seinen Weg durch die trostlose Landschaft bahnt. Bei näherer Betrachtung entpuppt sich die Oberfläche des Salzsees als Ansammlung unzähliger, wenige Zentimeter hoher Hügel aus messerscharfen Kristallen. Ziel ist die mitten im Salzsee und rund 40 Kilometer von San Pedro entfernt gelegene Lagune Chaxa.
Dort stolzieren einige Dutzend Flamingos durch knöcheltiefes Wasser - fast sieht es aus wie eine optische Täuschung. Strenger Schwefelgeruch reizt die Nase, Libellen surren durch die Luft. Wer sich umschaut, erblickt in der Ferne nicht weniger als 19 Andengipfel. Irgendwo in den Bergen entspringt auch die Quelle, die die Lagune speist und die Flamingos ein vergleichsweise gemütliches Leben ohne natürliche Feinde führen lässt.
Für Atacama-Reisende sind manche Nächte nur kurz, denn Langschläfer würden ein beeindruckendes Naturschauspiel versäumen: den Sonnenaufgang über den etwa zwei Autostunden von San Pedro entfernten Tatio-Geysiren. Dort, auf einer rund 4300 Meter hohen Ebene, sprudeln mehr als 80 Grad heiße Quellen aus dem Inneren der Anden und sorgen für mehrere Meter hohe Dampffontänen. Steigt dann die Sonne schlagartig hinter den umliegenden Gipfeln empor, ist die Ebene in goldenes Licht getaucht. "Wenn man das sieht, weiß man, warum so viele Kulturen die Sonne verehren", erklärt die Reiseführerin.
Besonders hart gesottene Besucher können einen Ausflug zu den Tatio-Geysiren für ein Bad in einem kleinen, künstlich angelegten Bassin nutzen. Beim Verlassen des mehr als 30 Grad warmen Wassers und beim Ankleiden sollten sie sich jedoch sputen, denn trotz des hellen Sonnenscheins ist es hier in der Höhe empfindlich kalt. Ein Dauerlauf zum Aufwärmen empfiehlt sich trotzdem nicht: Durch die dünne Bergluft ist jede körperliche Arbeit sehr anstrengend.
Wer keine Lust auf Baden hat, kann auch nach Vikunjas Ausschau halten. Die kleineren Verwandten der Lamas leben ausschließlich in Höhen ab 4000 Metern. "Aus dem Fell an der Brust der scheuen Tiere lässt sich hervorragende Wolle gewinnen", sagt Patricia. "Allerdings dürfen nur vom Staat angestellte Ranger die Vikunjas scheren." Lange galten die, auch Andenkamele genannten, Tiere als vom Aussterben bedroht. Erst auf der Artenschutzkonferenz im November 2002 in Santiago de Chile gaben Experten weitgehend Entwarnung.
Ähnlich hoch hinauf wie zu den Tatio-Geysiren führt ein weiterer Ausflug, den Besucher der Atacama-Wüste ebenfalls nicht verpassen sollten: Ziel sind die Berglagunen Miscanti und Miniques in rund 100 Kilometer Entfernung von San Pedro. Die Fahrt dorthin führt zunächst entlang des Salzsees und dann geradewegs ins Gebirge - auf einer Straße, die bis nach Argentinien führt.
Ein Stopp empfiehlt sich in der winzigen Ortschaft Socaíre. Sie beeindruckt nicht nur durch zwei Kirchen, sondern auch durch einen interessanten Panoramablick hinunter zum Salzsee und hinauf zu den Bergen. Im Vordergrund sind terrassenförmig angelegte Felder zu erkennen, die Bauern dem Erdboden durch geschickte Nutzung des talwärts fließenden Quellwassers abgetrotzt haben. Kartoffeln wachsen hier, ebenso Weizen und Gemüse.
Rund 30 Prozent der Menschen, die in der Atacama-Wüste wohnen, sind andischer Abstammung - in ganz Chile sind es nur 6 Prozent. "Der Begriff Indios ist herabwürdigend, wir sind Andinos", erklärt Patricia. Die 32-jährige ehemalige Englischlehrerin gehört der Volksgruppe der Aymara an, die in Bolivien die Mehrheit der Bevölkerung stellt. "In Chile werden die Ureinwohner dagegen bis heute diskriminiert." Das führe so weit, dass viele ihre Herkunft verleugnen. "Ich habe meinen Schülern immer gesagt: Seid stolz auf euch, ihr seid wunderschöne Menschen."
Von der holprigen Fahrt durchgeschüttelt und bei den Lagunen Miscanti und Miniques angekommen, verschlägt es einem fast die Sprache. Fast zu perfekt, wie von künstlichen Scheinwerfern aufgehellt erscheint die Szenerie: zwei Seen mit strahlend blauem Wasser, eingerahmt von rötlich schimmernden Bergen und einer von knöchelhohen Büschen gesprenkelten Anhöhe. Mit einem Fernglas lassen sich auch hier Flamingos beobachten, die am Ufer gegenüber entlang waten. Bis auf ein leises, von umherschwirrenden Mücken verursachtes Surren herrscht Stille.
Im unmittelbar westlich von San Pedro gelegenen Valle de la Luna, dem Mondtal, Stille zu finden, dürfte dagegen schwer fallen. Zu viele Touristen wissen um die bizarre Schönheit der Formationen aus Salzgestein, die das Tal umgeben. Ebenso populär ist eine große Sanddüne am Rande des Mondtals, auf die sich mit etwas Anstrengung klettern lässt, um die Aussicht zu genießen.
Viel eher als ein Ausflug ins Mondtal empfiehlt sich ein Abendspaziergang durch das benachbarte Kari-Tal. Nur wenige Meter ist die Schlucht breit, die sich in Serpentinen durch das Salzgestein windet. Wie weiße, im Fluss erstarrte Lava bedeckt blasenförmig aufgeworfenes Salz den Boden. Von Dezember bis März, im chilenischen Sommer, fließt hier bis zu einen Meter hoch das Wasser. Eher unscheinbar wirken die Felsen, in deren Schatten die Besucher wandern. Doch spätestens wenn sie innehalten und dem Knacken des in der Abendsonne erkaltenden Gesteins lauschen, dürfte ihnen klar sein, dass Superlative in der Atacama-Wüste tatsächlich Nebensache sind.
Von Florian Oertel, gms