

Corona-Alltag auf den Cookinseln "Das Wasser ist so glasklar wie nie"
SPIEGEL: Sie leben an einem Ort, an dem Sie sich keine Sorgen wegen Corona machen müssen - auf den Cookinseln gibt es noch keinen Corona-Fall. Wissen Sie Ihr Glück zu schätzen?
Tim Meyer: Auf jeden Fall! Jedes Mal, wenn ich Nachrichten im Fernsehen schaue, empfinde ich eine große Dankbarkeit. Trotzdem fühlt man sich hier manchmal wie in einem goldenen Käfig. Rarotonga ist eine recht kleine Insel. Die einzige Straße führt auf einer Strecke von 32 Kilometern einmal im Kreis um die Insel herum.
SPIEGEL: Die Cookinseln leben zu fast 80 Prozent vom Tourismus. Wie kommen die Menschen damit klar, dass diese Einnahmequelle derzeit vollständig versiegt ist?
Meyer: Zum ersten Mal in der Geschichte des Staates bekommt jeder Arbeitnehmer noch bis Ende des Jahres eine Arbeitslosenhilfe von 295 Dollar pro Woche. Ich hatte am Anfang der Coronakrise wirklich Bedenken, ob wir auf der Insel sicher sind: Was passiert hier, wenn Menschen nicht mehr genug Geld haben? Bleibt das alles ruhig? Aber alle gehen sehr entspannt mit der Situation um. Das liegt ganz sicher daran, dass die Menschen es einfach gewohnt sind, in Isolation zu leben.
SPIEGEL: Wie sieht das konkret aus?
Keiner muss Angst haben zu verhungern: Alle drei Monate werden hier die Felder neu bestellt, und Fisch gibt es immer ausreichend. Ich habe den Eindruck, dass es für die Inselbewohner völlig in Ordnung ist, eine Zeit lang wieder so wie ihre Vorfahren zu leben. Ich hingegen kämpfe mit typisch deutschen Existenzängsten und frage mich schon oft, was wohl passiert, wenn hier in den nächsten Monaten nicht endlich wieder Flugzeuge landen.

Cookinseln: Olympische Spiele im Paradies
SPIEGEL: Sie sind Manager des 4,5-Sterne-Resorts Motu Villas. Was gibt es für Sie derzeit noch zu tun?
Meyer: Ich lebe mit meiner Frau und den Kindern in einem der Hotelbungalows und werde weiterhin dafür bezahlt, die Anlage instand zu halten. Auch unsere sechs Mitarbeiter bekommen weiter ihr Gehalt, etwa dafür, dass sie den Garten in Ordnung halten. Einzig die räumliche Enge ist etwas belastend, da meine Frau und ich mit unseren beiden kleinen Kindern in einem Zimmer leben müssen.
SPIEGEL: Wie steht es um die Versorgungslage mit Lebensmitteln auf der Insel?
Meyer: Einmal in der Woche landet hier ein Linienflugzeug mit Cargo, und einmal im Monat kommt ein Schiff mit allem Lebensnotwendigen. Einige Dinge sind jedoch schwer zu bekommen. Ich warte zum Beispiel schon seit Wochen auf neue Steckdosen aus Neuseeland, die ich in den Hotelzimmern einbauen will. Zu Beginn der Krise konnten wir uns allerdings vor gutem Essen auf der Insel kaum retten, weil die Hotels schon für die ganze Saison eingekauft hatten. Plötzlich gab es Prosciutto und Räucherlachs zu Schleuderpreisen im Supermarkt.
SPIEGEL: Wie vertreiben die Menschen sich die Zeit, wenn sie nicht arbeiten müssen?
Meyer: Viele kehren zu alten Traditionen zurück. Die Leute fangen bei Ebbe im flachen Wasser Tintenfische oder mit Speeren in den Flüssen Shrimps. Alle Felder sind bestellt, und die ganze Insel sieht aus wie eine wunderschöne Parkanlage, weil alle ihre Gärten hegen und pflegen. Es gibt "Health Challenges", in denen sich die Leute gegenseitig mit Sport im Gemeindezentrum zum Abnehmen motivieren, und auch der alljährliche Hula-Tanzwettbewerb mit Teilnehmern von 13 der 15 Cook-Inseln fand in diesem Jahr statt. Die Menschen leben ihre Kultur ganz selbstverständlich - egal ob Touristen auf der Insel sind oder nicht. Sehr beliebt sind derzeit auch "Staycations" - also Urlaub im eigenen Land. Viele Anbieter von Touristenattraktionen haben ihre Preise für die Einheimischen gesenkt. Meine Tochter hat gerade einen Kindergeburtstag auf einer "Lagoon Cruise" gefeiert. Und eine Gruppe hier lebender Deutscher bereitet gerade ein eigenes Oktoberfest mit selbst gebrautem Bier vor.
Tim Meyer
SPIEGEL: Sogar "Olympische" Spiele finden derzeit auf Rarotonga statt. Wie kann man sich das vorstellen?
Meyer: Es ist eine generationenübergreifende Veranstaltung mit 2500 Teilnehmern zwischen 13 und 74 Jahren. Alle 13 bewohnten Cookinseln nehmen teil und treten in 24 Sportarten gegeneinander an. Beim "50 Meter Relay Race" etwa müssen die Sportler zehn Kokosnüsse an einer Stange auf den Schultern tragen und so schnell wie möglich zum Ziel rennen. Danach werden die Kokosnüsse im Wettlauf gegen die Uhr geschält. Meine Frau und ich helfen gerade als Freiwillige bei Wettbewerben im Schwimmen, Kite-Surfen und Apnoe-Tauchen mit. Derzeit führt die 1900-Einwohner-Insel Aitutaki mit 32 Medaillen. Ein bekannter Rugbyspieler hat das Olympische Feuer entfacht, und Thomas Bach, der Präsident des Internationalen Olympischen Komitees, hat eigens eine Videobotschaft zur Eröffnung geschickt. Er unterstrich in seiner Ansprache noch einmal die historische Einmaligkeit dieser Spiele. Denn zum jetzigen Zeitpunkt sind wir die einzige Nation auf der Erde, die einen nationalen Sportwettbewerb veranstalten kann.
SPIEGEL: Beschäftigen sich die Leute viel mit dem, was gerade im Rest der Welt passiert?
Meyer: Aufgrund der Abgeschiedenheit haben viele nicht den Drang, die ganze Welt verstehen zu müssen. Trotzdem will keiner, dass seine Kinder bloß Bauern oder Fischer werden. Viele Jugendliche machen deshalb eine Ausbildung im Ausland. Immerhin leben 50.000 Cookinsulaner in Neuseeland und 40.000 in Australien. Fast alle haben also Familienmitglieder, die einen westlichen Lebensstil pflegen und orientieren sich daran. Aber im Moment ist der Druck raus, mit den Familienmitgliedern im Ausland Schritt halten zu müssen.
SPIEGEL: Was vermissen Sie?
Meyer: Ich würde gern mal wieder auf einer geraden Straße irgendwo hinfahren. Wenn man immer nur im Kreis fahren kann, fühlt man sich oft wie in einem Hamsterrad. Es wäre auch schön, mal wieder mit Menschen zu quatschen, die mich nicht kennen. Sonst bin ich immer gern nach der Arbeit im Hotel auf die andere Inselseite gefahren, um mich in einer Strandbar mit Touristen zu unterhalten. Jetzt treffe ich immer dieselben Leute. Aber dafür ist es auch schön, dass alle immer näher zusammenrücken.
SPIEGEL: Woran ist das zu erkennen?
Meyer: Jeder Ort hat zum Beispiel jetzt eine Anlaufstelle, bei der man sich melden kann, wenn man Probleme hat. Etwa, wenn man zu alt ist, um den Rasen in seinem Garten zu mähen oder etwas zu essen braucht. Wir bringen dort regelmäßig für die Essenstafel Bananenstauden aus unserem Garten vorbei und haben letztens dabei geholfen, ein Vereinshaus neu zu streichen. Als Fan des FC St. Pauli macht es mir sehr viel Spaß, meinen Sohn dreimal in der Woche zum Fußballtraining zu begleiten. Die Zeit nehmen sich gerade alle Väter hier, und deshalb kommt man sich schnell näher.
Tim Meyer
SPIEGEL: Wie wirkt es sich auf die Natur aus, dass jetzt keine Touristen mehr kommen?
Meyer: Vielen war schon lange klar, dass 170.000 Urlauber pro Jahr der Insel nicht guttun. Corona hat eine Stopptaste gedrückt, die sich sonst keiner getraut hätte zu drücken. Die Lagune zum Beispiel hatte aufgrund der Abwässer schon mit Algenbefall zu kämpfen. Jetzt ist das Wasser dort so glasklar wie nie. Man erkennt durch die Wasseroberfläche jedes einzelne Sandkorn.
SPIEGEL: Gibt es Streit darum, ob und wann man wieder Touristen auf die Insel lassen sollte?
Meyer: Die Handelskammer, das Finanzministerium und der Tourismusverband haben eine Zeit lang darum gekämpft, wieder Touristen aus Neuseeland einreisen zu lassen. Dort gab es ja mehr als hundert Tage lang keine neuen Corona-Fälle mehr. Tatsächlich sollten gerade wieder die ersten Flüge landen, als in Neuseeland dann doch wieder mehrere Menschen positiv auf Sars-CoV-2 getestet wurden. Zum Glück war zu dem Zeitpunkt noch niemand eingereist. Eine Pandemie auf der Insel wäre eine Katastrophe, denn die Cookinseln haben eine der höchsten Diabetes-Raten weltweit und viele Menschen sind übergewichtig.
SPIEGEL: Was tun Sie, um keinen Inselkoller zu bekommen?
Meyer: Ich schreibe einen Blog über mein Leben auf Rarotonga und mache gerade meinen Flugschein in einer kleinen Cessna. Die lokale Airline hat einen jungen Piloten eingestellt, der regelmäßig fliegen muss, um seine Lizenz nicht zu verlieren. Deshalb sind die Flugstunden für mich bezahlbar. Es tut gut, auf diese Art zwischendurch mal Abstand zur Insel zu bekommen.