

Vor Corona nach Thailand geflohen »Ich bin immer noch hier. Und ich habe keinen Rückflug«

In Reportagen, Analysen, Fotos, Videos und Podcasts berichten wir weltweit über soziale Ungerechtigkeiten, gesellschaftliche Entwicklungen und vielversprechende Ansätze für die Lösung globaler Probleme.
Reisewarnung, Kontaktbeschränkung, Ausgangssperre – die Corona-Pandemie hieß für die meisten: so viel Zeit zu Hause wie noch nie. Und: so viel Zeit allein wie noch nie. Für Felix (Name geändert), 31, war das Gegenteil der Fall. Er fuhr in Urlaub, nach Südostasien. »Das war die beste Entscheidung meines Lebens«, sagt er.
»Ich bin im März 2020 nach Thailand geflogen, zu Beginn der ersten Corona-Welle. Natürlich gab es Menschen, die mir davon abrieten, während einer Pandemie in den Urlaub zu fliegen. Und auch ich habe mich damals gefragt, ob das sinnvoll ist. Ich war kurz davor, nicht zu fliegen, in Berlin zu bleiben, mich Uni und Arbeit zu widmen.
Aber ich hatte die Flugtickets schon gebucht. Und Freunde, die bereits in Thailand waren. Und die schickten mir Bilder: menschenleere Sandstrände, verlassene Hotels, Thailand ohne Touristen. Ich dachte mir, wenn ich irgendwo sicher bin vor Corona, dann an einem einsamen Strand. Es sind ja nur zwei Wochen.

Flucht unter Palmen: Strand statt Corona-Shutdown
Meine Flugroute war: Berlin – Moskau – Phuket. An den Flughäfen waren überall Temperaturscanner aufgebaut, aber noch nicht im Einsatz. Manche Menschen hatten Masken auf, andere nicht. Alle wirken ängstlich und angespannt. Viele Flüge waren bereits abgesagt und überall saßen Menschen fest.
Als ich in Moskau umstieg, stand neben mir eine Frau, völlig aufgelöst, die nicht wusste, wie sie nach Australien kommen sollte. Ihr Flug über Vietnam war gestrichen worden. Ich schlug ihr vor, über Thailand zu reisen. Sie brach in Tränen aus und umarmte mich. Und ich dachte: Oje, das geht ja gut los.
Dann endlich: Phuket. Es war ein ganz besonderes Gefühl, dort anzukommen. Kein Taxigeschrei, keine Aufregung. Auf Phuket war tote Hose. Ich wurde abgeholt und zu meiner Unterkunft gebracht. Auf der Fahrt sah ich einen leeren Megahotelkomplex nach dem anderen. Es war idyllisch-apokalyptisch. Die Sonne ging unter, das Meer rauschte, alles menschenleer.
Ich hatte diese Reise schon lange geplant, weil ich mich in Thailand mit meinen Freunden treffen wollte. Auch die waren extra deswegen hierhergekommen. Aus den USA, aus Australien und Europa. Manche von uns hatten sich seit Jahren nicht getroffen. Und als wir uns jetzt wiedersahen, fühlte sich das an wie ein Klassentreffen. 20, 30 Menschen, eine große Wahlfamilie am – für uns – Ende der Welt.
Die nächsten Tage lagen wir am Strand und tanzten, während die Sonne über dem Meer unterging. Es fühlte sich an, als feierten wir dem Weltuntergang entgegen. Wir ignorierten die Nachrichten, so gut es ging, und waren uns sicher: Was auch immer nach unserem Urlaub kommt, braucht uns jetzt nicht zu kümmern.
Dann kam der Tag vor meiner geplanten Abreise. Ich hatte meinen Rückflug schon gebucht. In Thailand herrschte eine aufgescheuchte Stimmung. Die Regierung hatte angekündigt, die Grenzen dichtzumachen. Das Gleiche geschah in Europa und Amerika. Viele Ausländer wollten Thailand so schnell wie möglich verlassen. Aber niemand wusste, was ihn zu Hause erwarten würde.
Meine Freunde und ich saßen zusammen. Wir lasen uns Nachrichten vor und versuchten zu verstehen: Was passiert gerade? Und wie geht es weiter? Es war wie ein Kriegsrat unter Palmen. Dann sprach jemand aus, was seit Tagen in der Luft lag: Warum bleiben wir nicht einfach hier? Hier sind wir sicher. Hier sind wir zusammen.

Strand in Thailand
Foto: privatSchnell war klar: Die Hotels machten zu, die Restaurants schlossen, mit dem Touri-Betrieb in Thailand war es vorbei. Wir waren 30 Menschen, Freunde und Freundesfreunde, und wir hatten keine Unterkunft. Aber ein Resort-Manager bot uns einen Deal an: Wenn wir einen Monat im Voraus zahlen würden, könnten wir sein gesamtes Hotel übernehmen. Es gab kein Personal, keine Küche, keine anderen Gäste – wir mieteten das ganze Resort wie eine Privatwohnung.
Angeblich gab es Hunderte solcher Lockdown-Storys. Gruppen von Touristen und Expats, die Corona in Thailand erlebt haben. Aber davon wussten wir nichts. Wir blieben während des Lockdowns isoliert, in unserem eigenen Resort. Wir richteten eine Küche unter freiem Himmel ein, mit Gaskochern und drei Kühlschränken. Wir teilten uns die Aufgaben wie in einer Kommune. Mache gingen einkaufen, andere kochten. Morgens trafen wir uns zum Yoga, abends zum Curryessen bei Sonnenuntergang am Strand.
Für viele Menschen war die Einsamkeit sicher das Schlimmste an der Coronakrise. Der Mangel an menschlicher Nähe. Das gab es bei uns nicht. Im Gegenteil: Wir waren die ganze Zeit umgeben von Freunden. Mir war immer klar, was für ein Privileg das war. Ich habe viel mit meiner Familie und Freunden in Berlin telefoniert. Und natürlich hatte ich manchmal ein schlechtes Gewissen. Weil es mir so gut ging und ihnen manchmal so schlecht. Weil ich in Thailand am Strand saß und sie in Berlin im Homeoffice.
Dabei habe ich mich während dieser Zeit nicht nur entspannt. Ich bin DJ und schreibe über elektronische Musik. Das geht prima auch vom Strand aus. Nebenbei studiere ich Jura – auch das war möglich, dank Onlineseminaren und Internetklausuren.
Meine Freunde gingen mit dem Thema Arbeit unterschiedlich um. Manche waren im Lockdown extrem produktiv – einer schrieb ein ganzes Musikalbum –, andere machten gar nichts. Das hing natürlich auch von ihren Jobs ab. Wir waren eine sehr gemischte Gruppe: Cryptocurrency-Investoren, Programmierer und Manager, Menschen, die auf Festivals arbeiten, ein Haufen Yogalehrer und ein paar, die sonst zu Hause vielleicht arbeitslos gewesen wären.
Der Einzige, den wir regelmäßig sahen, war der Hotelmanager. Er kam immer wieder, um nach dem Rechten zu sehen. Und um uns zu warnen. Denn auch in Thailand gab es Kontaktbeschränkungen. Und na ja, 30 Ausländer, die jeden Tag eng nebeneinander am Strand sitzen – das war sicher nicht ganz regelkonform. Also blieben wir unter uns.
Die Menschen aus dem Nachbardorf sahen wir nur beim Einkaufen. Sie nahmen hin, dass es uns gab, waren zufrieden, wenn wir ab und zu etwas kauften und ansonsten eher belustigt, dass wir eine Pandemie lieber bei ihnen aussaßen als in unseren Erste-Welt-Ländern. Im Juni, als der Lockdown endete, tauchte der Hotelmanager wieder bei uns auf. Er sagte: Wir sind pleite. Ihr müsst ausziehen.
Es fühlte sich an, als sei der Trip vorbei. Die Grenzen waren wieder offen. Ich war seit drei Monaten in Thailand und in Berlin stand der Sommer bevor – ich hatte Sehnsucht nach meinem alten Leben. Also buchte ich mir ein Rückflugticket. Meine Koffer waren gepackt und ich war bereit, abzureisen. Da bekam ich die Nachricht, dass mein Flug gestrichen sei. Ich war nicht geschockt, ich war nicht wütend oder enttäuscht. Ich war: erleichtert. Das ist ein Zeichen, dachte ich. Ein Okay von oben. Jetzt bleibe ich.
Viele meiner Freunde hatten das genauso entschieden. Wir verließen das Resort, fuhren übers Festland bis an den Golf von Thailand und mit einer Fähre auf die Inseln. Manche von uns suchten sich eine Unterkunft auf Ko Samui. Ich ging nach Ko Phangan. Ich tauschte meine Bungalowhütte gegen ein Haus und meinen gemieteten Roller gegen ein gekauftes Motorrad. Ich schrieb mich für Thailändischkurse ein und machte eine Ausbildung zum Yogalehrer. Ich verliebte mich in meine neue Freundin. Wenn mich heute jemand auf der Straße fragt, ob ich hier lebe, sage ich: ja.
Ko Phangan ist seit 20, 30 Jahren eine Mischung aus Strandtouristentraum und Hippie-Anlaufstelle. Man kann tauchen, Yoga machen, off-the-grid leben, an Kakao- und Ayahuasca-Zeremonien teilnehmen. Es gibt eine spirituelle Aussteigerszene auf der einen und Touristinnen und Touristen, die für die Full-Moon-Party kommen, auf der anderen Seite. Zumindest normalerweise.
Corona hat das Leben hier verändert. Nur noch ein paar Hundert Ausländer leben auf Ko Phangan. Wenn ich mit dem Motorrad über die Insel fahre, fühlt es sich an wie in einem Dorf, in dem ich jeden kenne. Das Leben hier ist günstig. Ich komme mit circa 500 bis 700 Euro im Monat prima aus.
Viele denken, ich hätte das ursprüngliche Paradies gefunden, das die Insel vor dem Massentourismus war. Aber das trifft es nicht ganz. Das Insel-Feeling ist schon sehr 21. Jahrhundert: Wir sind eine Mischung aus digitalen Nomaden und Hippies mit Gitarre und Klangschale. Aber wir sind keine Aussteiger. Wir sind alle vernetzt, und viele von uns wissen, was auf der Welt los ist.
Inzwischen lebe ich seit zehn Monaten in Thailand. Wir alle, die hier geblieben sind, hören immer wieder von unseren Freunden, die nach Hause geflogen sind. Die meisten sind enttäuscht. Denn den Alltag zu Hause, nach dem sie sich gesehnt haben, gibt es nicht mehr. Und auch keine Gewissheit, wie es weitergeht.
Ich habe mich häufig gefragt, wie mein Corona-Alltag in Berlin wohl aussehen würden. Die Antwort ist: Ich weiß es nicht. Aber ich weiß, wie mein Alltag hier ist. Ich stehe um sechs Uhr auf, mache Qi Gong und Yoga am Strand, die Wellen rauschen, die Sonne geht auf. Ich pfeife mir ein paar Vorlesungen rein und lerne unter Palmen für meine Onlineklausuren. Ich fahre auf dem Motorrad über die Insel, gehe zum Thai-Kurs und perfektioniere meine Currys.
Abends sitze ich am Meer mit Freunden, höre Musik, schaue der Sonne beim Untergehen zu. Ich habe das alles noch nicht satt. Nicht den Sand und auch nicht das Rauschen. Dieses Corona-Jahr hat mir beigebracht, dass es unmöglich ist, alles zu kontrollieren. Und dass es okay ist, keine Ahnung zu haben, was als Nächstes kommt.
Ich bin im März nach Thailand geflogen, um zwei Wochen Urlaub zu machen. Ich bin immer noch hier. Und ich habe keinen Rückflug.«
Dieser Beitrag gehört zum Projekt Globale Gesellschaft
Unter dem Titel »Globale Gesellschaft« berichten Reporterinnen und Reporter aus Asien, Afrika, Lateinamerika und Europa – über Ungerechtigkeiten in einer globalisierten Welt, gesellschaftspolitische Herausforderungen und nachhaltige Entwicklung. Die Reportagen, Analysen, Fotostrecken, Videos und Podcasts erscheinen in einer eigenen Sektion im Auslandsressort des SPIEGEL. Das Projekt ist langfristig angelegt und wird von der Bill & Melinda Gates Foundation (BMGF) unterstützt.
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