
Mumbai: Stadttour mit den Dabbawallas
Dabbawallas in Mumbai Essen auf Fahrrädern
Ein altes klappriges Fahrrad mit zwei riesigen Klingeln, ein paar Tragetaschen, eine Uhr: Das ist alles, was Tukavam Gade für seine Arbeit benötigt. Er steht im Stadtteil Gamdevi im Zentrum von Mumbai. Das Haus, in dem der indische Unabhängigkeitskämpfer Mahatma Gandhi 17 Jahre lang lebte, ist nicht weit. Auch zum Wahrzeichen Mumbais, dem Gateway of India, ist es nur ein Katzensprung.
Um ihn herum tobt der Verkehr, doch Gade ist die Ruhe selbst. An seinem Lenker hängen vier schwere Stoffbeutel. Darin: dampfende Blechtöpfe. Auf seinem Kopf thront eine weiße Mütze ähnlich der eines Kochs. Aber Gade ist kein Koch, sondern Dabbawalla, Essensausfahrer.
Wer einmal in Mumbai war, der hat sie tausendfach gesehen: Seit mehr als 100 Jahren zählen die Dabbawallas zum Stadtbild der indischen Millionenmetropole. Man begegnet ihnen überall: auf den Straßen, an Bahnhöfen, in Treppenhäusern.
Lieferanten mit langer Tradition
Ihre Geschichte geht zurück bis in die britische Kolonialzeit. Um 1880 mundete vielen Indern, die unter den Briten arbeiteten, das von den Kolonialherren servierte Essen nicht. Deshalb machte ein findiger Geschäftsmann einen Service auf, der die zu Hause von den Frauen vorbereiteten Gerichte zu den Männern an den Arbeitsplatz brachte.
Heute sind es vor allem indische Geschäftsleute, die den Service nutzen. Statt Geld im Restaurant oder im Straßengrill auszugeben und Arbeitszeit zu verlieren, lassen sie sich ihr zu Hause oder in der Großküche zubereitetes Essen ins Büro schicken.
Das Wort Dabbawalla bedeutet auf Hindi so viel wie "der, der eine Box trägt". Das klingt simpel. Doch das System gehört zu den ausgefeiltesten Liefersystemen der Erde, denn ein Essen geht durch die Hände von durchschnittlich vier Personen. Alles beginnt um neun Uhr morgens. Dann holt der erste Dabbawalla die in Blechdosen verpackten Gerichte von bis zu 30 verschiedenen Haushalten ab und bringt sie zum nächsten Bahnhof. Dort lädt eine zweite Person die Behälter in den richtigen Zug.
Ein dritter Dabbawalla fährt dann mit der Bahn und reicht die Essen an der Station heraus, an der sie geliefert werden sollen. Die vierte Person, der lokale Dabbawalla, liefert das Essen schließlich aus. Zwischen 12.30 Uhr und 13 Uhr steht es auf dem Tisch.
Nur ein Fehler pro sechs Millionen Lieferungen
Jeden Tag werden auf diese Weise in Mumbai zwischen 175.000 und 200.000 Essen ausgeliefert. Mehr als 4500 Dabbawallas arbeiten in der Stadt. Zu erkennen sind sie am typischen Pati, dem weißen Hut. Einer der größten Umschlagplätze ist der Chhatrapati-Shivaji-Bahnhof im Herzen der Stadt. Gut die Hälfte aller Essen wird hier durchgeschleust.
Die Dabbawallas sind mittlerweile so bekannt geworden, dass erste Reiseveranstalter Touren auf ihren Spuren anbieten. Und das System ist in der Tat erstaunlich, denn pro sechs Millionen Lieferungen sollen die Lieferanten nur einen einzigen Fehler machen. Wegen seiner Zuverlässigkeit wird der Service mittlerweile auch in anderen Städten Indiens und sogar in den USA kopiert.
Doch nirgendwo fällt die Orientierung so schwer wie in Mumbai. Als Tourist weiß man in dem Gewirr aus kompliziert verschachtelten Gassen selbst nach Tagen häufig nicht, wo in der der 20-Millionen-Metropole man sich befindet. Aber Tukavam Gade weiß es genau. Seit zwölf Jahren arbeitet der 35-Jährige als Dabbawalla: zehn Stunden am Tag, sechzig Stunden in der Woche. Nur einen Tag hat er frei. 25 Essen sammelt Gade täglich ein.
Er holt sie bei Menschen wie Sarika Padte, die für den Service zehn Euro im Monat zahlt. "Jeden Morgen koche ich für meinen Mann, und jeden Morgen schicke ich ihm das Essen per Dabbawalla", sagt Padte. "Er hat nicht viel Zeit, deshalb nutzen wir den Service." Nicht immer sei das Essen noch warm, wenn es ankomme. "Aber heute gibt es ja Mikrowellenöfen."
So präzise wie ein Schweizer Uhrwerk
Viele Dabbawallas kommen aus ländlichen Regionen. So wie Tukavam Gade, der aus Südindien stammt. 10.000 Rupien verdient der 35-Jährige mit seiner Arbeit im Monat, das sind umgerechnet etwa 130 Euro. "So viel könnte ich in meiner Heimat nie verdienen", sagt er.
Die meisten Dabbawallas sind Analphabeten, deswegen sind sämtliche Blechdosen mit einfachen Buchstaben- und Zahlenkombinationen und mit Farben gekennzeichnet. In der Regel enthält ein Essen lediglich vier Merkmale: die Absenderadresse, die Sammelstelle am Bahnhof, den Zielbahnhof und die Zieladresse.
In Zeiten einer hochtechnisierten Welt scheint das Dabbawalla-System antiquiert. Doch es funktioniert wie ein Schweizer Uhrwerk. Laut Kundenbefragungen sind 99,9 Prozent der Kunden zufrieden mit dem Service. Viele geben ihre Bestellungen mittlerweile sogar per SMS, E-Mail oder über das Internet auf. Und trotz wachsender Konkurrenz durch Pizza-Services und internationale Fast-Food-Ketten schätzen Experten, dass das Geschäft der Dabbawallas jedes Jahr immer noch um fünf bis zehn Prozent wächst.
Ob Gade die Arbeit nach all den Jahren noch Spaß macht? "Das Auskommen reicht für mich und meine Familie", sagt der 35-Jährige beinahe bescheiden. "Ich möchte nichts anderes machen." Dann steigt er auf sein Fahrrad, verabschiedet sich freundlich und entschwindet schwankend mit seinen Beuteln im Straßengewirr der indischen Millionenmetropole.