
Spaziergang durch Marrakesch: Gassen, Geschichten, Gauklerplätze
Unterwegs in Marrakesch Märchen vom Platz der Geköpften
Sogar Ben Kingsley und Susan Sarandon waren hier schon zu Besuch. Sie blickten über die Brüstung der Café-Dachterrasse hinunter auf den sechs Fußballfelder großen Platz dort unten, der sich immer mehr füllte. Zwei Hollywood-Stars auf Gastspiel in einer fremden Welt, zwei Schauspieler aus Amerika, die ihren Kollegen aus einer anderen Zeit auf dem Gauklerplatz Djamaa al-Fna mitten in Marrakesch die Referenz erweisen wollten - und sich dann doch lieber erst vorsichtig herantasteten.
Sie waren hergekommen, um den Leuten aus dem Damals zuzuschauen - aus der Zeit, als es noch keine bewegten Bilder gab und man sich noch nicht in geschlossenen Räumen vor Leinwände setzte, um Geschichten zu hören. Man hockte sich aufs Pflaster und hing an den Lippen der Märchenerzähler, lauschte diesen Menschen und beobachtete jede ihrer Regungen.
Allein mit ihren Stimmen, ihren Gesten und dem Rollen ihrer Augen erfüllten sie das, was inzwischen mit weit höherem Aufwand und größerem Personaleinsatz das Kino übernommen hat - Bilder anlaufen zu lassen. Die Gaukler von heute besuchen jene von gestern. Und sie sind froh, dass es dieses Gestern noch gibt: in Marrakesch zu Füßen der schneebedeckten Gipfel des Hohen Atlas.
Im Sommer dauert die Vorstellung der Feuerschlucker, Tänzer, Musiker und Akrobaten, der Dompteure, Kartenleger, Wahrsager, Schlangenbeschwörer und Märchenerzähler hier bis morgens früh um halb fünf, weil es vorher sowieso zu heiß zum Schlafengehen ist. Im Winter machen die Akteure um kurz vor Mitternacht Feierabend, weil es dann empfindlich kühl wird und Zauber Wärme braucht.
Maulkorberlass für Basarkrämer
"Hast Du einen Tag in Marokko", sagt ein Sprichwort, "verbringe ihn in Marrakesch. Hast Du nur eine Stunde, verbringe sie auf dem Djamaa al-Fna." Dabei bedeutet der Name eigentlich "Platz der Geköpften", weil die Herrscher von einst hier Hinrichtungen vollstrecken ließen.
Wie seit Hunderten von Jahren brandet noch der Alltag durch das Netz schmaler Schneisen im unüberschaubaren Häusermeer der angrenzenden Medina von Marrakesch, durch verschlungene Pfade, die so zufällig verlaufen, als hätte der emsige Menschenstrom immer wieder neue Gassen durch den Stein herausgewaschen. Die Leute schwappen vom Vormittag an bis in die Nacht hinein durch ein Meer aus Farben, wo aus gefärbten Stoffen und Häuten gefertigte Decken oder Jacken, Schuhe oder Hemden verkauft werden.
In den neunziger Jahren war der Ruf Marrakeschs so schlecht geworden, dass die Fremden ausblieben. Die Händler waren zu aufdringlich, galten als die lästigsten Marokkos. König Mohammed VI. erließ daraufhin Vorschriften, wonach fortan nur noch staatlich lizenzierte Führer Fremde durch die Medina begleiten durften, nicht mehr die vielen selbsternannten und am Ende stets enorm gebührenpflichtigen "Freunde" und "Begleiter". Den vielen lästigen Pseudo-Guides ebenso wie den Basarkrämern war von einem Tag auf den anderen nicht einmal mehr gestattet, Touristen anzusprechen.
Wer gegen die von einer Heerschar Zivilpolizisten durchgesetzten Vorschriften verstieß, kam für einen Tag und eine Nacht ins Gefängnis und musste eine Geldstrafe in Höhe eines Handwerker-Monatslohns entrichten. Wer ein zweites Mal erwischt wurde, hatte einen Jahreslohn zu zahlen und landete dessen ungeachtet zusätzlich für zwei Monate im Gefängnis. Die rigorosen Vorschriften und ihre harte Durchsetzung zeigten die erhoffte schnelle, gründliche und vor allem auch anhaltende Wirkung.
Liebeserklärung an das Fremde
Am legendären Klang des Wortes "Marrakesch" im Abendland hat unterdessen Literatur-Nobelpreisträger Elias Canetti seinen Anteil - und daran, dass die Fremden aus Europa und Amerika sie auch in den Jahren der Nepper und Schlepper nie völlig aus den Augen verloren, nie ganz aus dem Herzen gelassen haben. Sein Bestseller "Die Stimmen von Marrakesch" ist eine Liebeserklärung an das Fremde, eine Ode an die Neugierde, an das Wundernkönnen und Fragendürfen, ans unbefangene Herumtasten in einer gänzlich anderen Welt, ohne irgendetwas vom Gesehenen von vornherein zu verurteilen. Alles darf bei ihm sein, wie es ist.
Die Märchenerzähler beschrieb er als Leute, deren Worte von weiter her kommen und länger in der Luft hängen als die gewöhnlicher Menschen. Die Minarette waren für ihn Leuchttürme, die von einer Stimme bewohnt sind. Den Gesichtsausdruck der Kamele verglich er mit dem würdevoller und zugleich gelangweilter englischer Damen, die zusammen Tee einnehmen.
Der andere, der dieser Stadt ein Denkmal setzte, hieß Alfred Hitchcock - lange bevor Ridley Scott, Martin Scorsese und Oliver Stone hierher kommen sollten. Lange vor Erfindung des Filmfestivals sogar, das Ben Kingsley und Susan Sarandon nach Marrakesch reisen ließ. Er flog im Frühjahr 1955 aus Amerika ein, hatte Doris Day und James Stewart im Schlepp. Sie stiegen im schon damals legendären Hotel La Mamounia in der Avenue Bab Jdid ab und drehten "Der Mann, der zu viel wusste". Ihr Film zählt heute zu den Klassikern des Hollywood-Kinos
Stadt in Ekstase
Was all die Regisseure, die seitdem hier gearbeitet haben, ebenso wie all die Touristen immer mit sich tragen werden? Dasselbe wie Ben Kingsley und Susan Sarandon und all die anderen, die der Mythos Marrakesch gepackt hat und die immer wiederkommen werden: dieses Dröhnen der Schellen und Tamburine von Djamaa al-Fna, das man nicht mehr los wird. Es nistet sich im Kopf ein. Es klingt zwischen den Ohren, lässt sich nicht mehr abschalten, nur leiser drehen. Es ist der Herzschlag dieser Stadt.
Am neuen Tag wird es die eigenen Schritte bestimmen, den Rhythmus der Fortbewegung vorgeben: Hände, die einen Abend und eine Nacht lang wie ekstatisch auf eine straff gespannte gegerbte Ziegenhaut eingeschlagen haben, sind daran schuld. Hände, die jeden Abend und jede Nacht rund um jedes Jahr dasselbe tun. Es sind Hände von Menschen in weiten weißen Umhängen, ihren Dschallabas, von Männern mit roten Filzkappen, die den Soundtrack dieser Stadt erschaffen - auf einem Volksfest, das Alltag ist.
Eines, das Einheimische anlockt und Fremde. Eines, das es schon immer gab - so lange jedenfalls wie die Geschichten der Märchenerzähler zurückreichen, die abends auf diesem Platz auf dem Pflaster hocken, von Menschen umringt sind und von Prinzen und Prinzessinnen, von Romanzen und gefährlichen Abenteuern erzählen.
Es sind überlieferte Geschichten - oder gerade erst erfundene Storys. Diese Märchenerzähler gehören hierher genau wie die Musiker, wie die Feuer- und die Schwertschlucker, die Akrobaten, die Wahrsager, die Jongleure und die Schlangenbeschwörer, wie die Bettler und die Taschendiebe. Sie sind Teil einer grandiosen Reizüberflutung mit zehn Buchstaben: Marrakesch.
Dieser Text ist ein Auszug aus dem Band "Mythos Marrakesch" (Fey Verlag Düsseldorf, 38 Euro).