
Mit Kindern auf Weltreise Die Kunst der Gelassenheit
Schon vor Beginn unserer Reise haben wir uns Gedanken darüber gemacht, wo wir am besten die Anden überqueren. Nach sechs Wochen Argentinien wollen wir noch eine Weile Chile bereisen.
Manche Urlauber brüsten sich damit, über den höchsten Pass zwischen den beiden Ländern gefahren zu sein. Wir haben nach dem niedrigsten gesucht.
Hua Hum, sagte Google.
Hua Hum, sagte das Fremdenverkehrsamt Turismo Chile, als ich fragte, wie wir am besten von Argentinien kommend unser erstes Ziel in Chile erreichen, das Naturreservat Huilo Huilo, das sich westlich der Anden erstreckt.
"Hua Hum", sagte mein Mann, "das machen wir."
Ich war misstrauisch. Weder im Reiseführer noch im Internet fand ich Informationen über öffentliche Verkehrsmittel, die dort die Grenze passieren. Mein Mann winkte ab. "Ach was", sagte er, "vor Ort lässt sich das schon organisieren."
"Hua Hum?", fragt die Angestellte des Tourismusinformationsbüros im argentinischen Grenzort San Martin de los Andes erstaunt. "Haben Sie denn einen eigenen Wagen?"
Nein, haben wir nicht.
"Außerdem", ergänzt die Angestellte, "gibt es dort keinen Geldautomaten, wo Sie chilenische Pesos erhalten." Sie schaut uns an, blickt auf das Baby, dann wieder auf uns. "Und Nahrungsmittel dürfen Sie auch nicht über die Grenze mitnehmen."
Pfeifender Mann, schlafende Kinder
Vorwurfsvoll schaue ich meinen Mann an. Wir haben kein Auto. Dafür ein hungriges Baby. Es braucht Babynahrung, die man im Naturreservat bestimmt nicht kaufen kann. Zumal wenn man keine chilenischen Pesos hat.
Aber zum Glück sind wir in Südamerika. Da werden Probleme spontan gelöst.
Unsere Gastgeberin, eine deutsche Auswandererin, die vor einigen Jahren ein kleines Bed & Breakfast eröffnet hat, besorgt uns einen Fahrer. Chilenische Pesos gibt es in der Wechselstube in San Martin. Und die Babynahrung? "Die schmuggeln wir", meint unser Fahrer energisch. Wenn wir erwischt werden, versucht er mich zu beruhigen, könne er ja sagen, das Baby sei krank und benötige dringend genau dieses spezielle Essen.
Also fahren wir los. Durch ein Naturreservat bis zur Grenze, vorbei an patagonischem Regenwald, kristallklaren Seen, schneebedeckten Bergen. Mein Mann pfeift entspannt vor sich hin, die Kinder schlafen. Ich sehe mich vor meinen geistigen Augen in einer chilenischen Gefängniszelle. Arrestiert als Schmugglerin.
Aber alles geht glatt. "Haben Sie außer Babynahrung Lebensmittel dabei", fragt die nette Zöllnerin, ohne dass wir etwas gesagt haben. Wir bekommen Stempel in die Pässe gedrückt. Ich atme auf.
Unser Fahrer lässt uns am See Pirehueico raus, wo uns eine Fähre zu unserem Zielort bringen soll. Als vorausschauende deutsche Bürgerin hatte ich frühzeitig die Schiffsgesellschaft angeschrieben, um Tickets zu reservieren. Keiner antwortete. Keiner will ein Ticket sehen. Stattdessen setzt der Kapitän meine Tochter ans Steuer. Sie ist begeistert - und bleibt anderthalb Stunden dort sitzen. Umringt von der Schiffscrew, die ihr über das blonde Haar streichelt.
Keine Lust auf Land
"Siehst du?", sagt mein Mann als wir unser Ziel erreichen. "Hat doch alles gut geklappt. Du machst dir zu viele Sorgen." Er hat recht. Sechs Wochen sind wir bereits unterwegs. Doch leider fehlt es mir immer noch an südamerikanischer Gelassenheit.
"Wir gehen wandern", sagt mein Mann bestimmt. "Das entspannt." Dann schaut er uns misstrauisch an. Er weiß, er hat es mit drei ausgeprägten Stadtfrauen zu tun. Oder zumindest mit zweien, das Baby ist noch nicht so festgelegt.
Ich entsinne mich daran, dass das Kind - sozialisiert in Hamburg - einmal mit seinem Opa, der auf dem Land lebt, im Wald spazieren ging. Irgendwann hatte es keine Lust mehr. "Ich will nicht mehr im Wald sein", sagte es. "Ich möchte in ein Café, Kinder-Cappuccino trinken." Damit meinte es warme, geschäumte Milch, die in den Family-Hipster-Cafés Hamburgs den jungen Gästen kredenzt wird. Der Großvater war sprachlos.
Mein Mann, selber auf dem Land aufgewachsen, versucht seither zu jeder Gelegenheit, das Kind an die Natur heranzuführen. Offenbar mit Erfolg.
Es gefällt uns Stadtfrauen in Huilo Huilo, einem Naturreservat rund 850 Kilometer südlich von Santiago. Wir bestaunen Araukarienwälder, bewundern den schneebedeckten Vulkan Mocho-Choshuenco, lauschen dem Rauschen eines Wasserfalls. Wir wandern, werfen Steine in Bäche, sammeln Stöcke, klettern über Felsen. Das Kind strahlt.
Wir kehren nicht ein, sondern nehmen Picknick mit. Das Baby juchzt, wenn es auf der Picknickdecke strampeln darf. Es blinzelt in die Baumkronen, rupft Gras, schaut erstaunt einer Gänsefamilie hinterher, die ein paar Meter weiter an uns vorbeiwatschelt.
"Mich haut nichts mehr um"
Nach ein paar Tagen fahren wir weiter gen Norden, an den See Budi, ein Brackgewässer, das vor der Pazifikküste durch eine hügelige Landschaft mäandert.
"Wohnen hier die Indianer?", fragt meine Tochter. Damit meint sie die Mapuche, ein indigenes Volk, das rund um den See siedelt. Ich nicke.
Aus meinem Stadtkind wird ein Landkind. Wir übernachten in einer Ruka, einer traditionellen Unterkunft. Statt Parkettboden läuft man auf Lehm, statt einer Heizung flackert in der Mitte der Ruka ein Feuer. Eine Mapuche-Frau erklärt uns, welche Heilkräuter wir unserem Kind bei Bauchschmerzen und welche Pflanzen wir dem Baby gegen Zahnschmerzen geben können. Das Kind lernt spinnen und Feuer anzünden. Es staunt, dass man in der heißen Asche Tortillas backen kann. Es gibt kein Internet, die Handyverbindung ist schlecht.
Ich entspanne mich tatsächlich. Nach vier Tagen sage ich zu meinem Mann: "Jetzt bin ich so gelassen wie die Südamerikaner. Mich haut so schnell nichts mehr um."
Am nächsten Tag wird uns auf dem Weg nach Santiago der Rucksack aus dem Auto geklaut. Darin: sämtliche Kindersachen. Weg ist sie, meine neu gewonnene südamerikanische Gelassenheit.
Bis März 2013 wird Alexandra Frank regelmäßig von ihren Erlebnissen als Familie auf Weltreise bei SPIEGEL ONLINE berichten.