Bergtour auf den Huashan in China Selfie am Abgrund

Voller Einsatz für ein Selfie: Manche Besucher gehen große Risiken ein
Foto: Stephan OrthDie goldene Schildkröte spielt mit dem Jadefrosch, das weiße Pferd überquert die Himmelsbrücke, und der Löwe betrachtet den Geburtstagsschatz. Ganz schön was los hier oben, zumindest laut einem Schild am Wegesrand, das die tofufarbenen Kalksteinformationen ringsum erläutert.
Wenn es darum geht, klangvolle Namen und Geschichten für Naturschönheiten zu ersinnen, sind die Chinesen unschlagbar. Wanderer am Huashan in der Shaanxi-Provinz passieren auf dem Weg zu den Gipfeln die Schneeflockenhöhle, die Pflaumenblütenhöhle und die Weißer-Mantel-Höhle. An einem kleinen Tor am Wuli-Pass lernen sie: "Wenn ein Mann den Durchgang bewacht, können zehntausend nicht vorbei." Charmanter kann man einen schmalen Passierweg am Hang kaum superlativieren.
Steile Treppenstufen führen in ein paar Stunden vom 40 Millionen Euro teuren Luxusbesucherzentrum auf die fünf höchsten Punkte: den Sonnenaufgangsgipfel im Osten, den Lotusblumengipfel im Westen, den Wolkenterrassengipfel im Norden, den Jadefraugipfel in der Mitte und den Gänselandungsgipfel im Süden, der mit 2155 Metern alle anderen überragt.
"Der Huashan ist einer der bedeutendsten Berge des Taoismus", erklärt Ingenieur Jin Wong aus Xi'an, seine Heimatstadt liegt etwa 120 Kilometer entfernt. "Darum sind hier so viele Tempel am Wegesrand. Und es gibt ein paar schwere Passagen, bei denen es sicher nicht verkehrt ist, vorher zu beten."
Auf den ersten Kilometern ist das schwer zu glauben. Der Weg ist hier ein Hochsicherheitspfad, komplett gepflastert und mit Stufen versehen. Ständig weisen Schilder auf Gefahrenstellen, Rauchverbote und den korrekten Pfad hin. Mehrere No-Swimming-Warnungen wurden vor einem Gebirgsbach angebracht, der so flach ist, dass kein Eichhörnchen darin ertrinken könnte.

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Alle paar hundert Meter stehen Toilettenhäuschen, die besser gepflegt sind als ihre Pendants in den Straßen von Peking oder Shanghai. Einige Mitwanderer tragen Jogginghose und Turnschuhe oder laufen in Anzug, Lederslippern und mit Zigarette hinter dem Ohr bergauf. Wer es ganz bequem haben will, der gelangt per Seilbahn in die Nähe der Gipfel.
Kalte Füße aus dem Snackshop
Auch die Versorgungslage ist hervorragend. Snackshops verkaufen Nudelsuppen, Red Bull und kalte Hühnerfüße. Souvenirläden bieten Holzschwerter, Wanderstöcke und rote Sonnenschirme an. Und Schlösser mit individueller Namensprägung, die kleinen für 38 Yuan (5,50 Euro), die großen für 168 (25 Euro). An jedem Geländer hängen Hunderte oder gar Tausende davon, eine ständige Erinnerung daran, welche Menschenmassen schon hier waren. Wer unverfälschte Natur und alpine Einsamkeit sucht, sollte sich die 180 Yuan Eintritt (etwa 26 Euro) und die Abgabe des Fingerabdrucks am Eingang sparen. Als Einblick in das touristische Selbstverständnis der Chinesen, Frischluftkur mit Aussicht und Treppenstufen-Kardio-Workout dagegen ist eine zweitägige Tour bestens geeignet.
"Kuai dian!", "schneller!", ruft Conny aus Peking ihrem Freund zu. Sie hüpft leichtfüßig voran, er keucht hinterher. Nicht unbedingt, weil sie fitter ist, er schleppt nur mehr Gepäck. Mit allen ihren Sachen für eine Übernachtung am Ostgipfel, während sie nur ein kleines Lederhandtäschchen über dem makellos weißen Wollpulli trägt. "Ich mag die frische Luft hier, in Peking ist nur Smog", sagt die 28-jährige PR-Agentin. "Und man kann hier schöne Fotos für Weibo und WeChat machen."
Wie wichtig die Rolle von Erinnerungsfotos in sozialen Medien ist, lässt sich an der berühmtesten Stelle des Berges beobachten, einem Klettersteig mit morschen Holzlatten, Eintritt: 30 Yuan. Direkt am Einstieg wurde ein kleiner Tempel in den Fels gehauen. Das ist sinnvoll, viele Menschen sind hier ins Verderben gestürzt, und vermutlich noch mehr Kameras und Smartphones.
Unerschrockene bekommen ein Klettersteigset um die Schultern gelegt, mit zwei Karabinerseilen und der knappen Instruktion, nie beide gleichzeitig zu lösen. Die Seile wirken dünn, die Schultersicherung erweckt nicht zwangsweise den Eindruck, die Wucht eines Sturzes auszuhalten. Nach den übertriebenen Sicherheitshinweisen beim Aufstieg scheint plötzlich das Überleben der Huashan-Besucher nicht mehr oberste Priorität zu haben. Zunächst geht es etwa 50 Meter bergab über Eisenstufen im Fels, dann die Steilwand entlang auf 30 Zentimeter schmalen Holzbrettern, die mit rostigen Nägeln fixiert sind.
Die Chinesen jedenfalls scheinen vor lauter Selfies zu vergessen, Angst zu haben. Ein Fotograf bietet von einem schmalen Sims aus seine Dienste an. Das Geschäft läuft gut. Wen er mit einem Bein und einem Arm über dem tausend Meter tiefen Abgrund ablichtet, der kann sich Dutzender Likes auf der Mikroblogging-Seite Weibo sicher sein.

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Zurück geht es auf demselben Weg. Wenn zwei Kletterer aneinander vorbei wollen, ist das oft ein haarsträubender Anblick, manche lösen aus Bequemlichkeit beide Karabiner vom Drahtseil an der Wand. "Früher gab es die Klettersteigsets hier gar nicht, das ist schon viel sicherer geworden", berichtet ein grinsender junger Kerl in einer seltenen Knipspause. Verlässliche Angaben zu Todesfällen gibt es nicht. Aber noch vor ein paar Jahren hieß es, dass hier jährlich rund hundert Menschen ums Leben kamen, die Passage wurde als "gefährlichste Bergtour der Welt" bekannt.
Pure Entspannung ist dagegen der Südgipfel. Der höchste Punkt ist mit einem massiven Geländer voller Erinnerungsschlösser gesichert, die Aussicht auf Bäume, Kalkfelsen und Tempel ist phänomenal. Der Maler und Dichter Wang Lu schrieb vor Jahrhunderten: "Der Wind singt im Pinienwald, seine Blätter rauschen und klopfen rhythmisch an den Fels wie ein Musikinstrument."
Als Zugabe zu diesem poetischen Realismus gibt es wieder ein Schmankerl fernöstlicher Imagination, wenn es darum geht, mit Sprache Naturwunder zu kreieren. Direkt unter dem Gipfel befindet sich der "himmlische Teich, der zu keiner Jahreszeit überfließt oder austrocknet". Es handelt sich um einen etwa drei Meter breiten Tümpel.

5500 Kilometer, eine Zeitzone: Stephan Orth reist per Zug quer durch China, von Ost nach West. Die achtteilige Serie führt von Shanghai bis in die entlegene Seidenstraßenstadt Kashgar ¿ und durch ein Land voller Widersprüche und Extreme.