In Alaskas Wildnis Der Aussteiger, der Magic Bus und die Pilger

Alaskas Natur war sein Schicksal. Schon lange vor Sean Penns Film "In die Wildnis" wurde der tragisch gescheiterte Aussteiger Christopher McCandless zum Idol verträumter Jugendlicher. Seine Zuflucht, ein rostiger Bus, avancierte zum Pilgerziel - die Einheimischen freut das nicht.
Von Stephan M. Müller

Coke Wallace blickt besorgt. Trotz der Minusgrade rinnen zwei dicke Schweißtropfen von seiner Stirn. Sein Allrad-Fahrzeug ist gerade durch das Eis des Savage-Flusses gebrochen. Durch das für die Jahreszeit milde Wetter in den vorangegangenen Tagen ist die oberste Eisschicht an manchen Stellen dünn. Der Trapper nimmt die Mütze vom Kopf, atmet tief ein und schaltet bedächtig zunächst in den Rückwartsgang. Dann legt er mit etwas Schwung den Vorwärtsgang ein. Mit knapper Not und heftiger Schieflage schafft es der Allrader die Uferböschung hoch.

Wallace bringt neugierige Besucher zu dem alten Linienbus 142 der Fairbanks Verkehrsbetriebe. Seit Jahren steht das ausgeschlachtete, rostige Gefährt mitten in der Wildnis Alaskas, 40 Kilometer nordwestlich von Healy, und diente zunächst Straßenbauarbeitern, dann Campern und Jägern im Denali-Nationalpark als Schutzhütte. Von dem kleinen Kaff Healy bis nach Anchorage, der größten Stadt des US-Bundesstaates, sind es einsame 400 Kilometer Landstraße in südliche Richtung - die Ansiedlungen auf der Strecke kann man an einer Hand abzählen.

Bei Wallace und seinen Kumpeln heißt der Omnibus lediglich "der Bus vom toten Typ". Und das macht die Attraktivität der Rostlaube aus, denn "der Typ" ist Christopher McCandless, dessen Schicksal der Schriftsteller Jon Krakauer Mitte der Neunziger zu seinem Buch "In die Wildnis" verarbeitet hat. Es ist die Geschichte eines jungen Mannes aus guten Elternhaus, der mit fünf Kilogramm Reis und einem Gewehr auszieht, um in der Wildnis zu leben und sich selbst zu finden - wie seine literarischen Vorbilder Henry David Thoreau und Jack London. McCandless hatte längst alle Brücken hinter sich abgebrochen, als er in dem unberührten Teil Alaskas verschwand. Im August 1992 wird sein verwester Leichnam von einem Elchjäger aufgefunden - nach über 110 Tagen in den Wäldern war der Aussteiger verhungert.

Pilgern zum Magic Bus

Das Haus von Coke Wallace am "Stampede Trail" ist auf dem Weg zu McCandless' Unterschlupf die letzte Bastion der Zivilisation. Der Trekking-Pfad, auf dem Wallace jetzt entlang tuckert, führt auf einen Bergkamm entlang. Obwohl es bereits zehn Uhr morgens ist, ist die Sonne gerade erst richtig aufgegangen. Der Himmel scheint hier höher als irgendwo sonst. In der Ferne sieht man Mount McKinley, der höchste Berg Nordamerikas wird von den heutigen Einwohnern Alaskas Denali genannt wird. Das Wort kommt aus der Sprache der Athabaskan Indianern - Alaskas Ureinwohnern - und bedeutet "der Große".

Wallace erzählt, dass er auch Hollywood-Star Sean Penn zum Bus gebracht hat. Damals lag hoher Schnee, und Wallace und Penn fuhren in Schneemobilen. Penn hatte Jahre zuvor Krakauers Buch gelesen - in einer Nacht zweimal - und beschlossen, die Geschichte von McCandless zu verfilmen. Es dauerte zum Herbst 2007, bis sein Werk in die US-Kinos kam, in der vergangenen Woche war Filmstart in Deutschland. Penn selbst sagt, er habe um die Filmrechte "geworben" wie um eine Braut.

Schon vor dem Erscheinen des Sean-Penn-Films war McCandless und sein Leben in den USA Kult - vor allem bei jungen Amerikanern. "Es ist seine Leidenschaft, die ich wirklich bewundere. Er hielt die amerikanische Gesellschaft für abgestumpft. Das Leben seiner Eltern fand er profan. Er wollte das Leben spüren und etwas tun, von dem er überzeugt war", sagt der 23-jährige Paxson Woelber. Er und seine Brüder Eric und Brett sind McCandless-Fans, seitdem sie Krakauers Buch gelesen haben. Im vergangenen Sommer reisten sie zum "Magic Bus" - wie McCandless die Nummer "142" nannte. Wie viele vor ihnen, wollten sie sehen, wo ihr Idol gelebt hat und wo es gestorben ist.

Pflichtlektüre am College

Paxson Woelber redet von einer Seelenverwandtschaft, die ihn mit McCandless verbindet. "Ich bin fasziniert vom Gedanken, allein in die Wildnis zu gehen, ab von jeglicher Zivilisation. Dort draußen hast du nur Verantwortung für dich selbst. Das ist wild und romantisch." Einfach aussteigen und dem System ein Schnippchen schlagen. "Ich muss zugeben, das ist ein Gedanke den ich auch schon hatte, und ich denke, das fasziniert viele so an McCandless. Er tat etwas, was wir alle oft auch schon im Sinn hatten. Nur trauen wir uns nicht", sagt Paxsons jüngster Bruder Brett, der sogar sein abgegriffenes Krakauer-Buch mitgebracht hat, um seinen Geschwistern im Bus daraus vorzulesen.

Als die drei jungen Männer bei ihrem Trip zum Bus von einem Unwetter überrascht wurden, übernachteten sie dort. Eric erinnert sich an seinen ersten Gedanken nach dem Aufwachen. "Ich habe im Bett eines Toten geschlafen." Brett war sogar in einen Kurs am angesehnen Middlebury College in Vermont eingeschrieben, für den das Krakauer-Buch Pflichtlektüre war. Es ist McCandless' Idealismus, mit dem sich die jungen Studenten identifizieren. Und sie bestaunen seine Kompromisslosigkeit. Natürlich ist dessen Geschichte auch eine typisch amerikanische Saga, die den Individualismus zelebriert. Das Leben als eine Ansammlung von Grenzerfahrungen.

Nach knapp vier Stunden Fahrt durch den Busch ist Coke Wallace mit seinen Gästen am Bus 142 angekommen. Als Erstes bemerkt er, dass die Armaturen verschwunden sind - geklaut wie viele Busteile zuvor. Wallace zieht einen Koffer mit Notizblocks und Kondolenzbüchern hervor. Hunderte von McCandless-Pilgern haben Widmungen hinterlassen und ihre Gedanken und Gefühle niedergeschrieben. Auch McCandless' Schwester und seine Eltern kamen hierher und haben eine Gedenkplakette zurückgelassen. Daneben stehen Graffiti-Sprüche, die Bewunderung ausdrücken für den Mann der "seinen Traum gelebt hat" - mit letzter Konsequenz.

"Mit Landkarte hätte McCandless überlebt"

Wallace kennt die lebensgefährlichen Folgen dieses Fanatismus. "In den letzten Jahren habe ich viele Leute gerettet, die schlecht ausgerüstet und unvorbereitet losgezogen sind, um den Bus zu finden und sich dann verlaufen haben." Ein junges Paar blieb mit dem Camping-Bus stecken. Und als bei der schwangeren Frau die Wehen einsetzten, wäre sie ohne die Hilfe von Coke Wallace und einem herbeigeholten Notarzt fast verblutet. Doch die Fans schrecken solche Vorfälle nicht ab. Der Bus ist eine Art Altar geworden. Bewunderer lassen Gegenstände zurück - Isomatten oder gutes Schuhwerk, als praktische Leihgabe für Neuankömmlinge. Andere Dinge - wie eine abgetragene Baseballmütze mit Autogrammen - erinnern mehr an Opfergaben.

In Alaska ist man nicht erfreut, dass die Jagdhütte zu einem Pilgerort avanciert ist. "Blödmann" hat jemand in den Lack geritzt. Die Stadtväter von Healy, auf dessen Verwaltungsgebiet der Bus steht, wollen dem Pilgertourismus Einhalt gebieten: Sie planen, den Bus abzutransportieren. Wallace nennt McCandless verhalten "naiv", er ist sich sicher: Der junge Amerikaner wäre heute noch am Leben, wenn er sich eine Landkarte eingesteckt hätte. So scheiterte McCandless am Hochwasser des Teklanika, da er nicht wusste, dass er den Fluss nur auf Höhe des Trampelpfades nicht überqueren konnte, auf dem er zum Bus gekommen war. Woanders sei das gefahrlos möglich gewesen.

Trapper Wallace hat zwar den Sean-Penn-Film nicht gesehen, doch er sagt: "Ich habe den Film genau hier" - mit dem ausgestreckten rechten Arm macht er einen Halbkreis und zeigt auf die Landschaft, die sich vor ihm ausbreitet. Wer könnte besser die Faszination der unberührten Natur verstehen als ein Mann der täglich in dieser Wildnis jagt, fischt und Fallen stellt und im Sommer Abenteuertouristen betreut. Christopher McCandless dagegen hat den Kampf gegen diese Wildnis verloren.

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