
Everest-Besteigung: Alleine, im Winter, ohne Sauerstoff
Junger Extrembergsteiger Jost Kobusch "Angst habe ich davor, den Gipfel zu erreichen"
Am 22. September fliegt Jost Kobusch nach Nepal, um zu versuchen, was vor ihm noch niemand geschafft hat: den Mount Everest im Winter zu besteigen, ohne zusätzlichen Sauerstoff, ohne Hilfsmittel und ohne Begleitung.
Der 27-jährige Bielefelder wurde 2015 durch sein Handyvideo der Lawine im Everest-Basecamp bekannt. Damals starben 18 Menschen, Kobusch konnte sich retten. Der Tag sei wie eine Wiedergeburt gewesen, sagt er heute. Von da an sei jeder Tag ein Bonus gewesen.
Statt wie eigentlich geplant Medizin zu studieren, entschied er sich nach der Katastrophe im Basislager das zu machen, was er wirklich wollte: Bergsteigen. Mittlerweile gehört Kobusch zu den bekanntesten Solobergsteigern Deutschlands - und zu den jüngsten der Welt.
Im Interview erzählt er, warum sein nächstes Projekt ausgerechnet der höchste Berg der Erde im Winter sein muss und warum er manchmal sehr egoistisch ist.

Jost Kobusch, geboren 1992 in Bielefeld, ist ein deutscher Solobergsteiger, der für seinen minimalistischen Ansatz bekannt ist. 2016 stand er als jüngster deutscher Bergsteiger auf dem Gipfel des Annapurna (8091 Meter) im Himalaya. Für die Winterbesteigung des Mount Everest hat er bis Ende Februar 2020 Zeit - dann ist meteorologischer Frühlingsbeginn.
SPIEGEL: Herr Kobusch, Sie waren noch nie auf dem Mount Everest. Warum wollen Sie ihn nun direkt unter den schwerstmöglichen Bedingungen besteigen ?
Jost Kobusch: Für mich sind Dinge spannend, von denen ich nicht weiß, ob sie überhaupt möglich sind. Der Everest wurde noch nie komplett ohne Sauerstoff und solo im Winter bestiegen, weil es sehr schwierig ist, und ich liebe das Schwierige: Wenn ich ein Videospiel spiele, will ich auch nicht zuerst alle leichten Levels durchspielen, sondern direkt das schwerste versuchen.
SPIEGEL: Aber die Besteigung des Everest ist kein Spiel, sondern kann tödlich sein. Wäre es nicht sinnvoll, sich den Berg zunächst im Sommer anzusehen, um das Risiko zu minimieren?
Kobusch: Das wirkt nur auf den ersten Blick wie ein guter Ansatz. Die Bedingungen im Himalaya sind im Winter ganz anders als im Sommer: die hohen Windgeschwindigkeiten, die extreme Kälte. Ich müsste den Berg also sowieso noch einmal neu kennenlernen. Dann kann ich auch gleich im Winter damit anfangen. Ich sehe es als Training unter den realistischsten Bedingungen, die es gibt. Der Gipfel ist ein Bonus.
SPIEGEL: Training in der Todeszone - sind Sie lebensmüde?
Kobusch: Nein, mich reizt nur der Aufbruch ins Unbekannte. Ich wähle Projekte immer so, dass sie auch scheitern können. Sonst sind sie zu einfach. Und warum sollte ich Zeit und Energie auf etwas verschwenden, was gar nicht mein Ziel ist?
SPIEGEL: Aus Angst.
Kobusch: Angst habe ich davor, den Gipfel zu erreichen.
SPIEGEL: Das klingt paradox.
Kobusch: Wenn ich den Gipfel geschafft habe, ist mein Projekt tot - und damit alles, worauf ich mich die letzten Monate vorbereitet und hingefiebert habe.
SPIEGEL: Wie kann man sich auf Temperaturen von minus 55 Grad vorbereiten?
Kobusch: Ich habe einen speziell für die Expedition entwickelten Daunenanzug und ein Hausrezept aus Chili-Pulver und Ameisensäuresalbe, das ich mir auf die Füße schmieren werde, damit sie gut durchblutet werden. Darüber ziehe ich dünne Socken, eine Plastiktüte und dicke Socken. Es brennt nicht, sondern prickelt angenehm. Falls das nicht funktioniert, muss ich versuchen, mich schneller zu bewegen - am wichtigsten ist es, den Oberkörper einzuheizen, der die Wärme dann in die Extremitäten ausstrahlt.
SPIEGEL: Höhenbergsteiger bewegen sich meist nur sehr langsam vorwärts, da ihnen das Atmen schwerfällt. Wie fühlt man sich auf 8000 Metern über dem Meeresspiegel?
Kobusch: Es fühlt sich an, als ob man sehr schnell durch einen Strohhalm atmet. Die hohe Atemfrequenz sorgt dafür, dass die Lippen und Schleimhäute austrocknen, daher hustet man sehr viel. Im Winter ist der Druck in der Höhe sogar noch geringer, weil sich die Luftmassen anders verteilen - ich steige also gewissermaßen auf einen Neuntausender.
SPIEGEL: Sie haben sich sehr gut über die physikalischen Bedingungen am Everest informiert. Meinen Sie, der durchschnittliche Everest-Bergsteiger weiß auch so gut Bescheid, was auf ihn zukommt?
Kobusch: Ich kann nur mutmaßen. Als ich 2015 versucht habe, den Lhotse zu besteigen, habe ich beobachtet, wie einige Bergsteiger im Khumbu-Eisfall gelernt haben, auf Steigeisen zu gehen und sich abzuseilen. Dazu muss man wissen: Der Khumbu-Eisfall bewegt sich, ist von Lawinen und Eisschlag bedroht - es ist weltweit wahrscheinlich der schlechteste Ort, um abseilen zu lernen. In Krisensituationen sind diese Bergsteiger aufgeschmissen. Mit Glück reicht es trotzdem für den Gipfel. Schließlich werden sie an die Hand genommen, hochgeführt, haben Sauerstoffflaschen dabei.
SPIEGEL: Sie hingegen sind ganz alleine.
Kobusch: Alleine komme ich am besten in einen Flow-Zustand, das ist fast schon meditativ. Sobald ich mit anderen in die Berge gehe, trage ich Verantwortung und bin abhängig. Bei einem Traumprojekt ist das schwierig. Was mache ich, wenn mein Partner nicht mehr weiter kann, ich aber weiß, ich könnte es schaffen? Ich könnte mir niemals verzeihen, ihn dann im Stich zu lassen. Trotzdem würde ich runterkommen und immer denken: "Ich hätte das geschafft."

Everest-Besteigung: Alleine, im Winter, ohne Sauerstoff
SPIEGEL: Sie sind also nicht der Meinung, dass die schönsten Erlebnisse die sind, die man teilt?
Kobusch: Nicht unbedingt. Alleine erfahre ich unglaublich viel Handlungsmacht. Ich kann alles entscheiden, in jeder Sekunde, und ich kann es genauso machen, wie ich es will, ganz egoistisch. Auch wenn ich den Gipfel erreiche, brauche ich das mit niemandem zu teilen, denn ich mache das ja nur für mich selbst.
SPIEGEL: Das steht im Widerspruch zu Ihrer Marketingkampagne - man kann Sie im Himalaya ja sogar per GPS-Tracker verfolgen .
Kobusch: Am Ende des Tages besteige ich nur einen eisbedeckten Stein. Wenn ich das schaffe, werde ich danach vielleicht dafür gefeiert, aber in zwei Jahren erinnert sich da keiner mehr daran.
SPIEGEL: Reinhold Messner und Peter Habeler haben den Everest vor 41 Jahren erstmals ohne künstlichen Sauerstoff bestiegen. An sie erinnert man sich heute noch.
Kobusch: Das war eine andere Zeit: Damals war das eine total extreme Sache, von der man dachte, sie sei unmöglich. Heute klettert Alex Honnold ohne Sicherungen auf den El Capitan im Yosemite Nationalpark.
SPIEGEL: Wenn Ihnen der Ruhm nicht wichtig ist, warum wollen Sie dann etwas machen, was noch nie jemand geschafft hat?
Kobusch: Ich will meine Neugierde befriedigen, sehen, was möglich ist. Wie ein kleines Kind auf dem größten Spielplatz der Welt. Ich bin irgendwann süchtig danach geworden. Gleichzeitig brauche ich immer ein großes Ziel, um mich zu stabilisieren.
SPIEGEL: Sie sind erst 27 Jahre alt und wagen eine Expedition, von der Sie vielleicht nicht lebend zurückkommen. Was sagt Ihre Familie dazu?
Kobusch: Für Eltern gibt es nichts Schöneres, als zu wissen, dass das Kind genau das macht, was es liebt. Wenn ich am Berg bin, denke ich nicht eine Sekunde daran, was meine Familie gerade denkt. Einmal ist auf einer Expedition für zehn Tage mein Satellitentelefon ausgefallen, und als ich wieder zu Hause war, haben meine Eltern gesagt: "Wir haben nichts von dir gehört, und es wurde immer stiller im Haus. Wir dachten, du wärst gestorben." Da wurde mir zum ersten Mal bewusst, was ich meinen Eltern eigentlich antue - ich bin ja nie dabei, während sie sich Sorgen machen.