Karibik Der Citizen Kane von Antigua

Strände wie aus dem Bilderbuch, gutes Klima das ganze Jahr lang und neun Radiostationen, die um jeden Hörer kämpfen: Auf Antigua gibt es von allem mehr als genug. Der Lebenskünstler Winston Derrick sorgt dafür, dass das so bleibt.
Von Henryk M. Broder

Es ist fünf vor acht, Winston Derrick sitzt schon an seinem Platz, hat das Mikrofon vor sich zurecht gerückt und die Kopfhörer aufgesetzt. Jetzt müssten nur noch seine Studiogäste kommen, dann könnte es losgehen mit seinem Programm "Without Limits", das er an vier Abenden in der Woche, montags bis donnerstags, von 20 bis 23 Uhr moderiert. Aber die Gäste lassen auf sich warten. Eine Minute vor acht gibt Derrick dem Techniker hinter der Glasscheibe ein Zeichen, er solle noch einen Musiktitel spielen.

Jeder Radio-Moderator würde in einer solchen Situation nervös werden und zu beten anfangen. Derrick aber bleibt gelassen. "Wenn es sein muss, werde ich mich mit mir selbst unterhalten. Oder Fragen der Hörer beantworten." Er weiß, in der Karibik kommt es auf ein paar Minuten mehr oder weniger nicht an, und wer mit den Tücken des Alltags klarkommen will, der muss improvisieren können. Nicht nur die Touristen finden die Parole "Live slow" ("Lebe langsam") sehr überzeugend.

Doch dann läuft alles wie geplant, nur ein wenig verspätet. Egbert Joseph, Vorsitzender der Gewerkschaft der Hotel-Angestellten auf Antigua, und Senator David Massiah, der den Trade Union Congress, die Dachorganisation der Gewerkschaften, im Oberhaus des Parlaments vertritt, unterhalten sich mit Winston Derrick über die Folgen der Globalisierung für die Wirtschaft der Inselrepublik.

Wer etwas werden will, muss im Ausland gewesen sein

Aber es geht nicht nur um das große Ganze. Es gibt auch hausgemachte Probleme, die mit der Globalisierung nichts zu tun haben. Der Trade Union Congress, vor zwei Jahren gegründet, steht der Regierung von Baldwin Spencer und dessen United Progressive Party nahe. Die viel ältere Antigua Trade and Labour Union ist mit der Antigua Labour Party des abgewählten Lester Bird verbandelt. Die gesamte Arbeiterklasse von Antigua zählt höchstens 15.000 Köpfe, aber sie leistet sich zwei miteinander konkurrierende Verbände, die sich gegenseitig Unfähigkeit, Korruption und Verrat vorwerfen.

Fast drei Stunden dauert die Diskussion, und sie dreht sich um Einzelheiten, die kein Außenstehender verstehen kann. Auch der Techniker, Rory Butler, kommt nicht mit, aber das kann daran liegen, dass er erst 17 Jahre alt ist und sich mehr für Musik als für Politik interessiert. Rory möchte Journalist werden, hat schon ein Stipendium für ein Studium in Havanna bekommen, ist sich aber nicht sicher, ob Kuba der richtige Ort ist, um das Handwerk des Schreibens zu lernen. Er würde lieber in Jamaika studieren, aber die Regierung von Jamaika vergibt keine Stipendien. Da sind die Kubaner großzügiger.

Wer auf Antigua etwas werden will, muss eine Weile im Ausland gewesen sein. Winston Derrick, der wie Orson Welles' Filmfigur Citizen Kane aussieht und auftritt, war 17, als er nach Kanada ging. Aber statt eine höhere Schule zu besuchen, wurde er Barmann in Montreal. "Ich war zu jung, um eine Bar besuchen zu dürfen, aber ich bekam eine Arbeitserlaubnis als Barkeeper." Mit 18 heiratete er, mit 27 ging er zurück nach Antigua und machte zusammen mit seiner Frau ein Restaurant auf. Das lief 13 Jahre lang gut, bis die Reiseveranstalter auf die Idee kamen, "all inclusive"-Programme anzubieten. "Die Leute blieben zum Essen im Hotel." Derrick machte den Laden dicht und überlegte eine Weile, was er machen könne. Er vertrieb sich die Zeit mit dem Schreiben von Leserbriefen an die lokalen Zeitungen und ärgerte sich darüber, dass sie nicht abgedruckt wurden. 1993 hatte er eine Idee, wie er sich Gehör verschaffen konnte. Er schrieb an jedem Wochenende einen Newsletter, den er an alle Besitzer von Fax-Anschlüssen verschickte.

Ein Jahr später kaufte er eine alte Druckerpresse und machte sein Steckenpferd zum Beruf. Heute gehören ihm der "Daily Observer" mit einer Auflage von 4.000 Exemplaren und zwei Radio-Stationen auf Antigua: "The Voice of the People" auf der Frequenz 91.1 und "Hitz FM" auf 91,9. Derrick beschäftigt in seinem Medienunternehmen 70 Mitarbeiter und würde irgendwann gerne auch eine Fernsehstation aufbauen. Diesmal ganz legal.

Denn als er vor sechs Jahren mit dem "Observer Radio" anfing, wollte ihm die Regierung keine Frequenz zuteilen und keine Lizenz geben. Die Regierung unter Lester "Baby" Bird betrieb einen Sender, und die Familie des Ministerpräsidenten war gleich an zwei Stationen beteiligt. "Die haben alles kontrolliert", sagt Derrick. Also suchte er sich eine freie Frequenz und ging ohne Lizenz "on air" - worauf die Regierung die Polizei losschickte und dem Spaß nach einem Tag ein Ende machte.

Derrick klagte und verlor in allen Instanzen, denn auch die Gerichte waren mit den Günstlingen des Premiers besetzt. In letzter Instanz bekam er doch Recht, vor dem "Privy Council" in London. "Der Premier hatte einfach vergessen, dass Antigua noch immer zum Commonwealth gehört."

"Jeden Tag ins Büro, das wäre nichts für mich."

Derricks Beispiel machte Schule. Heute gibt es auf Antigua neun lokale Radio-Stationen – bei einer Bevölkerung von rund 70.000 Menschen. Dass Lester "Baby" Bird vor zwei Jahren sein Amt aufgeben musste und damit eine 28-jährige Herrschaft der Bird-Familie über Antigua beendet war, führt Derrick auf die Wirkung seines Observer-Radios zurück. "Wir haben die Regierung nicht gestürzt, wir haben ihr nur geholfen, die Wahlen zu verlieren." Seitdem heißt er "Mr. Fix It". Nun hofft er, dass der neue Premier mit der Vetternwirtschaft aufräumt und die Finanzen saniert. "Die alte Regierung hat 65 Prozent aller Einnahmen für ihr Personal ausgegeben, 30 Prozent gingen an die Banken, 5 Prozent blieb für alles Übrige." Zwar ist der Lebensstandard auf Antigua höher als auf den Nachbarinseln, aber die Verschuldung ist es auch.

Winston Derrick sitzt fast jeden Vormittag auf der Terrasse von Philton’s Bakery & Cafe und führt seine Geschäfte übers Telefon. Er habe schon mal daran gedacht, in die Politik zu gehen, den Gedanken aber schnell wieder aufgegeben. "Jeden Tag ins Büro, das wäre nichts für mich." Lieber fährt er zu Philton’s und bestellt einen Teller Poridge mit Ahornsirup. Und freut sich darüber, wie schön das Leben auf Antigua ist: "Hier braucht man im Sommer keine Klimaanlage und im Winter keine Heizung."

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