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Tobago: Robinson Crusoes Inselreich

Foto: Peter Linden

Karibikinsel Tobago Mit Robinson in den Regenwald

Hier kämpfte der berühmteste Schiffbrüchige der Weltliteratur ums Überleben: Auf der Karibikinsel Tobago ließ Daniel Defoe seinen Robinson Crusoe landen. Die Einheimischen tun sich mit dessen Ruhm noch schwer - dabei haben sie manches gemeinsam mit der Romanfigur.
Von Peter Linden

"Willkommen im Regenwald!" Harris McDonald sagt das, als wäre er der Hausherr hier oben in der Forest Reserve der Karibikinsel Tobago. Eine Gruppe vorbildlich in kolonialem Weiß gekleideter Engländer hat sich angemeldet zu einer Wanderung, und McDonald hat für sie den Spring Trail ausgesucht. Einen alten, überwucherten Pfad, den früher die Jäger von Charlotteville benutzten. Er lehnt lässig zwischen zwei jungen Palmen, die wie eine Pforte wirken auf dem Bergrücken am Rand der schmalen Asphaltstraße. Wie ein Türsteher lehnt er da, wie einer, der jederzeit den Eintritt verwehren dürfte ins Reich der Sinne.

Ein Reich, das den Europäern bekannter ist als jedes andere Regenwaldgebiet der Welt. Denn lange bevor es so etwas gab wie Tourismus, lange bevor Regenwälder zu etwas anderem wurden als gigantische Rohstofflager für den Schiffs- und Häuserbau, hatte es den berühmtesten aller Schiffbrüchigen hier angespült: Robinson Crusoe.

Am 30. September 1659 lässt Daniel Defoe seinen Helden im Süden Tobagos stranden, als einzigen Überlebenden der gesamten Mannschaft. Und trotz aller Angst vor Kannibalen und quälender Einsamkeit entdeckt Robinson nach und nach ein Land "so frisch, so grün, so blühend, alles in unverwelktem Frühlingsglanz, dass es mir wie ein angepflanzter Garten Eden erschien".

Verheerende Zerstörung durch "Flora"

Harris McDonald war keine fünf Jahre alt, als Tobago aufhörte, sein Garten Eden zu sein. Es war der 30. September 1963, auf den Tag genau 304 Jahre nachdem Defoes Held hier angespült worden war. Wie immer hatten die Kinder von Charlotteville am frühen Morgen den Fischern geholfen, die Netze an Land zu ziehen und ihren Familien so das Mittagessen gesichert. Dann waren sie in ihren Uniformen zur Schule gelaufen. Und während sie da saßen, ahnungslos, weil die Transistorradios im entlegenen Charlotteville die Signale des Senders aus der Hauptstadt Scarborough nicht empfangen konnten, war "Flora" schon unterwegs.

Kaum waren die Kinder zu Hause, brach der Hurrikan über die kleine Karibikinsel herein. Als erstes erwischte "Flora" die Boote im Hafen, dann flogen die ersten Häuser weg, auch das Haus von Harris' Eltern hob einfach ab. Die Familie rannte hinüber zu den Nachbarn, wenig später riss es auch deren Haus in die Luft. Sie flohen durch den peitschenden Regen hinauf in den Wald, und als der Spuk endlich vorbei war, war der größte Teil Tobagos zerstört. Wochenlang lebten die Menschen von Charlotteville in Zelten, an der Stelle, wo einmal der Spielplatz war.

McDonald war 40, als er sein Paradies wiederentdeckte. Er hatte die Schule geschmissen, war durch Europa gereist, ein bisschen aus Neugierde, vor allem aber auf der Suche nach der großen Liebe. Er hatte sich im Süden Tobagos, weit weg von Charlotteville, als Strandwächter verdingt und jedes Jahr ein paar Touristen aus der Strömung gezogen und vor dem Ertrinken gerettet. Und wenn sie ihren Wohltäter dann fotografieren wollten, posierte er stolz im knappen Slip als schwarzer David Hasselhoff.

Zurück in Eden

Doch irgendwann holten ihn die Erinnerungen ein. An die Zeit, in der er gemeinsam mit seinem Vater Riesenmeerschweinchen gejagt hatte. In der ihn der Vater jeden Tag in den "Garten" mitnahm, zur Arbeit auf seinen Yam- und Süßkartoffelfeldern. Die Zeit, in der er aufwachte mit dem Gesang der Vögel und wieder einschlief mit dem Gesang der Vögel.

Plötzlich bemerkte McDonald, wie sehr sich Charlotteville zurückverwandelt hatte in den Garten Eden von einst. Er kaufte Bücher über die Vögel, über die Bäume, über die Geschichte Tobagos. Er lernte die Namen aller Spezies auf Englisch, dann auf Latein. Und er las einen Roman, den kaum ein Einheimischer je gelesen hatte: Robinson Crusoe. Am Ende war Harris McDonald staatlich zertifizierter Tour Guide.

"Willkommen im Regenwald!", sagt er noch einmal, dann gibt er die Palmen-Pforte frei, und schon hat der Garten Eden seine Engländer verschluckt. Er beobachtet seine Gäste genau in diesen Momenten, wie sie eintauchen in den Regenwald, wie ihre Augen vor den tausend Grüntönen kapitulieren, grünblind werden. Und wie schließlich ihre Nasen und Ohren triumphieren, betört von der unsichtbaren Wand aus warmen Düften und Aromen, umtost vom Klacken, Knacksen, Schluchzen, Gurgeln, Pfeifen, Schmatzen und Würgen der Vögel. Selten geben die grünen Wipfel den Blick auf buntes Gefieder frei, sie sind gut versteckt, die wilden Papageien, Tukane, Krähenstirnvögel, Tangaren, Naschvögel. Doch Harris hat ein dickes Fernglas vor seinem Bauch baumeln, und auf einmal beginnen die grünblinden Wanderer auch wieder zu sehen: Der Urwald, er lebt.

Ein Leben, so üppig und doch so verletzlich. Schon wenige Jahre, nachdem der Roman "Robinson Crusoe" erschienen war, hatten die Sägen der Zuckerbarone einen Großteil Tobagos gerodet. Und kaum waren die ersten Sklavenaufstände niedergeschlagen, da rebellierte die Natur: der Regen blieb aus. Zum Glück für Tobago erkannten Wissenschaftler den Grund, und so geschah 1776 Unerhörtes. Erstmals auf dieser Welt wurde ein Waldgebiet unter Naturschutz gestellt. Ein erster Nationalpark, nicht für die Menschen, sondern für den Zucker. Seither haben auf dem immergrünen Rücken Tobagos nur noch Hurrikane Schneisen geschlagen, "Flora" 1963 und ein bisschen auch "Ivan" 2004. Schneisen, die schnell wieder zuwucherten.

Wie Tarzan im Urwald

Man kann dem Wuchern sogar zusehen auf dem Spring Trail. Kreuz und quer liegen morsche Äste, auf die sich Moos legt, an den Stämmen der Palmen und Hartholzbäume wachsen Kletterwurzeln hinauf und Luftwurzeln wieder hinunter. Lianen hängen in den grünen Alleen, und McDonald erzählt, dass er sich früher wie Tarzan über kleine Flusstäler schwang. Unter den Gummistiefeln seiner Gäste schmatzt der Boden, kleine Bäche gluckern. Sie bewegen sich bedächtig, die Wanderer aus England, nicht aus Angst vor wilden Tieren, wie Robinson Crusoe, sondern aus Demut. Der Mensch schrumpft dahin unter dem Gewölbe tropischer Baumkronen.

Auch McDonald fühlt so etwas wie Demut, wenn er in diesen Wald eindringt. Nie würde er erlauben, dass die alten Pfade ausgebaut oder gar befestigt würden. Auch Schilder und Wegweiser sind unerwünscht in Tobagos Forest Reserve. Sogar seine alte, vom Vater geerbte Leidenschaft, die Jagd, hat McDonald aufgegeben. Jetzt sagt er von sich: "Ich bin ein Naturmensch." Er sagt auch: "Ich bin ein schwarzer Robinson Crusoe."

Seltsam, wie spät die Romanfigur ins Bewusstsein der Bewohner Tobagos gedrungen ist. Obwohl die Verweise in Defoes Roman zahlreich und eindeutig sind (an einer Stelle ist von der Orinoko-Mündung die Rede und vom Blick auf die Nachbarinsel Trinidad), haben andere Inseln in Karibik und Pazifik aggressiv mit Robinson geworben. Der Stoff wurde 25 Mal verfilmt und tausendfach literarisch genutzt. Doch auf Tobago mochten sie den Robinson nicht, vielleicht, weil er Europäer war wie die alten Zuckerbarone, vielleicht, weil er wie sie angeschwemmt worden war: er, der Schiffbrüchige, sie, die Nachfahren der Sklaven aus Afrika.

Isoliert in der Dorfgemeinschaft

Erst langsam wächst ein Bewusstsein, dass Robinson auch für ein Lebensgefühl steht, für den Wandel, für die Suche nach dem wahren Ich. Und dass er sich prima vermarkten lässt, weil jeder ihn kennt.

Zudem haben sich die Menschen in Charlotteville immer ein wenig gefühlt wie Defoes Romanheld, dort oben im Norden, am Ende der löchrigen Straße. Nicht nur die Radiowellen brauchten lange, ehe sie das Fischerdorf mit seiner malerischen Bucht endlich erreichten. Auch mit der ersten Elektrizitätsleitung hatte es bis in die Zeit nach "Flora" gedauert. Das Fernsehen kam 1980, Mobiltelefone gibt es seit sieben Jahren. "Es gab keinen Grund fernzusehen", sagt McDonald. "Und keinen Grund zu telefonieren." Man lebte isoliert auf einer Insel, in der Familie und mit der Dorfgemeinschaft.

Auch heute gibt es diese altmodischen Dörfer noch, Dörfer wie Castara oder Buccoo, wo die alten Frauen in Lehmöfen am Strand backen, wo im März die Ziegenrennen stattfinden. "Die Menschen tun, was sie immer getan haben, sie fischen, gehen in die Gärten, trinken, hängen am Strand herum und plaudern", sagt McDonald, "und dass rund um sie herum langsam der Tourismus entsteht, das ist ihnen egal". Ihm ist der Tourismus nicht egal, es bereitet ihm große Freude, den "schwarzen Robinson" zu spielen und den Besuchern sein Land und seinen Wald zu zeigen.

Jeder seiner Wanderer, sagt er plötzlich, bekomme nun einen Vogel zugeteilt, dessen Name er am Ende des Spring Trail abfragen werde. Eine der Damen in Weiß, Mitte Fünfzig, soll sich den "rufus breasted hermit" merken, einen Kolibri mit rötlicher Brust. Ihre Freundin bekommt den "red-legged honeycreeper", einen Winzling aus der Familie der Naschvögel. Es wird noch stiller in der Gruppe, die Gäste haben aufgehört, miteinander zu sprechen. Sie lernen den Wald auswendig.

Nach drei Stunden ist die Gruppe in einem Flussbett angelangt. Nur noch mühsam schimmert Sonnenlicht durch das Blätterdach, der Fluss biegt und wendet sich, immer wieder gilt es, umgestürzte Baumriesen zu überklettern. Dann ein kleiner Pool, smaragdgrün mit braunem Kiesel am tiefen Grund, ehe der Pfad wieder ansteigt und plötzlich, nach kurzem Dickicht, am Rand der schmalen Asphaltstraße endet. McDonald ruft sie zusammen, seine Wanderer, teilt Fruchtpunsch aus und fragt die Namen der Vögel ab. Niemand hat seinen Vogel vergessen. Sie werden die Namen nach Hause tragen wie ein Totem.

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