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Barranco in Peru: Bloß keine Hektik!

Foto: Felix Ehring

Limas Szeneviertel Barranco Chillout mit Chicha

Wer in Lima dem Trubel der Innenstadt und dem Wahnsinn des Straßenverkehrs entkommen will, verbringt das Wochenende im Stadtteil Barranco. Dort gibt es einen der besten Nachtmärkte der peruanischen Hauptstadt.
Von Felix Ehring

Heute nicht! Die ganze Woche ist Taxifahrer Rolando Sanjinés mit seinem weißen Toyota in Lima unterwegs gewesen. Stundenlang hat er im Stau gestanden und sich durch den zähen Verkehr gequält. Sanjinés, das kann man sagen, gehört zu den kompetentesten Taxifahrern Perus. Er kennt jede Nebenstraße, jeden Schleichweg. Hin und wieder spielt er mit im nie endenden Hupkonzert von Perus Hauptstadt. Im Vergleich zu den Kollegen setzt der besonnene Vater von zwei erwachsenen Kindern die Hupe jedoch sparsam ein. "Seit es ein Gesetz gegen unnötiges Hupen gibt, ist es eh deutlich ruhiger geworden auf den Straßen", sagt er. Deutlich ruhiger? Das kann sich der Tourist kaum vorstellen.

Wie alle anderen hat auch Sanjinés in der vergangenen Woche unzählige rote Ampeln überfahren und bei Grün gestanden, um andere durchzulassen. Er hat am Lenkrad geschwitzt und von den uralten, knatternden Bussen den Feinstaub inhaliert, der in Lima eher Grobstaub heißen müsste. Sanjinés hat manches Manöver anderer Verkehrsteilnehmer mit stummem Kopfschütteln quittiert und ist routiniert ausgewichen. Aber er hat nie die Beherrschung verloren. Der Verkehr in Lima ist eben so: chaotisch, anarchisch. Nur heute geht der Kampf ohne Sanjinés weiter. Es ist Sonntag, und der 49-Jährige, der wegen seiner sonnengegerbten Haut ein paar Jahre älter aussieht, macht frei. Und seine Freizeit verbringt er am liebsten dort, wo er wohnt: im Stadtteil Barranco.

Barranco war ursprünglich ein Fischerdorf. Vor 150 Jahren bekam es einen eigenen Bürgermeister und damit einen Platz auf der Landkarte. Immer mehr wohlhabende Limenser schätzten die Ruhe und bauten sich Häuser im europäischen Stil für die Sommerfrische. Manche Verzierung an den Fassaden rund um die Plaza de Barranco - den zentralen Platz - erinnert an Jugendstil. Später errichtete Gebäude sind so schnörkellos wie die Bauhaus-Meisterhäuser in Dessau. Auf der Plaza beeindruckt die schmucke sandsteingelbe Iglesia la Santisima Cruz von 1906. Gegenüber wird der Platz von der ehemaligen Bibliothek mit hölzernem Uhrenturm eingerahmt.

Bausünden am Pazifik

Lima wuchs im 20. Jahrhundert unaufhaltsam und schluckte auch Barranco, das heute das Künstler- und Ausgehviertel der Metropole ist. Viele Fassaden und Holzverandas sind in satten Farben angestrichen. Mit der schönen Architektur ist es jedoch schnell vorbei. Ein paar Straßen weiter, an der Steilküste, verschandeln Appartementklötze den Blick auf den Pazifik. Auch auf der anderen Seite der Plaza geht Barrancos Altstadt nahtlos über in ärmliche Flachdachhäuser, deren Stahlträger solange nackt in den Himmel ragen, bis das Geld für ein weiteres Stockwerk zusammengespart ist.

Aus einer dieser Straßen hat Maria Cutti Vento ihren rot angestrichenen Kohlenofen auf Rädern vier Blocks weit bis zur Plaza geschoben. Danach ist sie noch einmal nach Hause, um Fleisch und Gemüse mit einem Taxi heranzuschaffen. Seit acht Jahren brutzelt die 56-Jährige jedes zweite Wochenende in tadelloser Kochjacke beim "Festival de Sabor". Das Fest des Geschmacks besteht aus einer langen Reihe von überdachten Tischen und mobilen Kochstellen. Auf der Grillplatte von Cutti Vento landen Hähnchen- und Leberspieße, Koteletts und "Anticucho" - Spieße mit Herz und Innereien. Anticucho ist eine peruanische Delikatesse und die Leibspeise von Taxifahrer Sanjinés.

Für den großen Hunger bietet Cutti Vento "Criolla" an, einen Teller mit verschiedenen Fleischsorten. Als Beilagen gibt es würzige Salsas, Maiskolben, Tomaten und Salat. Die vier Tagesgerichte stellt sie auf Papptellern am vorderen Rand ihres Grills aus. "Seit zehn Jahren gibt es das Festival", erzählt Cutti Vento, während sie die ersten Maiskolben grillt. Der Markt sei eingerichtet worden, um eine Verdienstmöglichkeit für arme Frauen zu schaffen, die selbst zubereitete Speisen verkaufen.

Eine Frauendomäne ist das Festival noch immer. Die Marktwochenenden sind anstrengend: Samstags kochen und braten die Frauen von 11 Uhr bis nachts um 2. Weil es rund um die Plaza viele Bars und Diskotheken gibt, lohnt sich das Nachtgeschäft. Am Sonntag ab 14 Uhr geht es dann weiter bis zum späten Abend. "Ich würde gern jedes Wochenende auf der Plaza verkaufen", sagt Cutti Vento. "Aber die Stadtverwaltung wehrt sich dagegen. Die Restaurants im Viertel fürchten unsere Konkurrenz und üben Druck auf die Behörde aus." Die Kleinunternehmerin hat einen Catering-Service gegründet, um auch in der Woche Geld zu verdienen.

Baden ist hier kein Vergnügen

Am Nachmittag füllen sich die Bänke unter den hohen Palmen der Plaza. Die Verkäuferinnen bekommen jedoch erst am frühen Abend richtig zu tun. Vorher, so scheint es, atmen die Limenser einfach mal durch. Sie schauen den spielenden Kindern zu und genießen die Brise, die in der Trockenzeit vom Meer herüber weht und garantiert keinen Regen bringt. Zum nahen Strand zieht es die wenigsten, denn der ist nur ein schmaler Kiesstreifen neben einer vierspurigen Straße. Auch das Schwimmen ist in Barranco nicht empfehlenswert. Die Wasserqualität ist schlecht, weil Abwässer ungeklärt ins Meer geleitet werden. Deshalb bleiben die Einheimischen lieber gleich auf der Plaza.

Wenn die Sonne am frühen Abend geht, kommen die Clowns. Pantomimisch spielen sie den Dummen und den Klugen oder den Gauner und den Aufrichtigen. Schnell haben sich Kinder und Erwachsene im großen Halbkreis versammelt. Hinter ihnen trägt eine kleine Frau mit indigenen Gesichtszügen einen großen Stab aufrecht vor sich her, aus dem kleine Stöckchen mit rosa Zuckerwatte ragen. Auf Kunden muss sie warten. Die Clowns fesseln ihr Publikum. Hinterher lassen sie den Hut rumgehen. Fast alle werfen einen Sol oder ein paar Céntimos hinein.

Am Wochenende kommen die Menschen aus allen Ecken Limas nach Barranco. Die meisten gelangen über die Arequipa hin, die altehrwürdige Prachtstraße. Sie beginnt im Zentrum und führt rund zehn Kilometer geradeaus nach Süden. An Werktagen ist die Arequipa zur Rush Hour eine einzige Blechlawine. Unweit der Kathedrale des Stadtteils Miraflores endet sie. Hier tickt Lima bereits anders als im hektischen Zentrum. Vor der Kathedrale verkaufen Maler am Wochenende ihre bunte Kunst: naive Malerei und Naturalismus, Bilder von Bergen, Märkten und Alpakas. Nebenan, im Parque Central, tanzen Paare Tango zu Musik vom Band. Wer wirklich ausspannen will, fährt aber noch etwas weiter Richtung Südwesten, wo die Chance auf frische Meeresluft besteht.

Maria Cutti Vento merkt davon wenig, während sie Fleischspieße brät. Sie reicht "chicha morada" dazu, eine selbst hergestellte Limonade. Der Grundstoff ist ausgekochter, violetter Mais, den sie mit Limette und viel Zucker verfeinert und dann aus einem großen Plastikeimer ausschenkt. Noch süßer ist nur die "Inca-Kola", ein gelbliches Industrie-Zuckerwasser, das in Peru etwa so beliebt ist wie Apfelsaft in Deutschland, und das wahrscheinlich direkt beim Trinken Karies verursacht. Überhaupt haben die Peruaner eine ausgeprägte Schwäche für Süßes. Am Nachbarstand von Cutti Vento türmen sich Berge aus Sahne, Gelatine und Zuckerguss: Kuchen, Törtchen, Crèmes Brûlées und extra große Torten, von denen ein einziges Stück nur mit Not auf einen Pappteller passt.

Pianokonzert im "Las Mesitas"

Nach einer guten Stunde beenden die Clowns ihr Programm. Immer mehr Menschen strömen nun in die beleuchtete Kirche, deren hohe Tore weit geöffnet stehen, während die Messe gefeiert wird. Ein Stimmengewirr erfüllt den Platz mit Leben. Die Einheimischen genießen diese Abende, weil sie wissen, dass nur zwischen Dezember und März auf die Sonne Verlass ist. Im April bildet sich wieder Hochnebel über der Stadt. Monatelang ist es dann bedeckt und kühl. In den Wohnungen wird es so feucht, dass viele ein Elektrogerät benutzen, um das Wasser aus der Luft zu filtern. Der Nebel steht in den Häusern. Kleidung muss im Schrank aufgehängt werden, sonst wird sie muffig.

In dieser Zeit steigen die Umsätze der Cafés und Bars von Barranco. Zu den beliebtesten gehört das "Las Mesitas". Seit 47 Jahren werden zuckerstarre Süßspeisen und warme Gerichte an die namensgebenden kleinen Tische gebracht. Der Besitzer sammelt Bilder und stellt sie für die Gäste aus. Zu bestaunen sind Werke international bekannter peruanischer Expressionisten, darunter Alberto Quintanilla del Mar aus Cusco, Victor Humareda, der am Titicacasee in Südperu geboren wurde, sowie Ricardo Grau, der in Frankreich zur Welt kam und später die peruanische Staatsbürgerschaft annahm.

Eingerahmt von so vielen Originalen spielt der Pianist Felipe Tortorelly am Wochenende auf dem Klavier in der Mitte des Raums. Tortorelly ist ein kleiner Mann mit müden Augen jenseits der 60. Er trägt ein weißes Hemd und führt seine Noten in einer Aktentasche bei sich. Erschöpft, aber entschlossen wirkt Tortorelly, wenn er sich über die Tasten beugt und leichte Begleitmusik spielt: Bossa Novas oder auch mal die Beatles. Die kurzen Finger fallen schwer auf die Tasten.

Nach einem Lied richtet Tortorelly sich kurz auf, atmet mehrmals schwer ein und aus und spielt sogleich weiter. Nie schaut er sich zu den Gästen um, wartet nicht auf Beifall und verlangt kein Getränk von der Bedienung. So versunken wie der Pianist sind auch die Gäste am Sonntagabend an ihren Tischen. Denn morgen geht die Hektik auf den Straßen wieder los, der Lärm, das Gedränge in den Bussen, all das Chaos, das in Lima schon nach wenigen Wochen ganz natürlich erscheint.

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