
Fotoserie "Live View": Schluss mit Romantik
Bilderserie "Live View" Nur das Foto zählt

Artur Urbanski, Jahrgang 1969, in Lodz geboren, studierte Architektur an der Technischen Universität Lodz, heute arbeitet er als Internetberater und Fotograf. 2001 startete er sein erstes Fotoprojekt "New Century Lodz". Aktuell beschäftigt er sich in verschiedenen Serien wie "End of Town" oder "Into the Wild" mit dem "Konsum von Landschaft", ausgestellt unter anderem in Kaunas und auf dem Format-Festival in Derby. Im Juni wird die Serie "Live View" auf der Triennale der Photographie in Hamburg gezeigt.arturbanski.com: Fotoprojekt "End of Town" arturbanski.com: Fotoserie "Into the Wild"
SPIEGEL ONLINE: Herr Urbanski, alle Menschen auf ihren Fotos machen das Gleiche: Sie strecken ihr Smartphone oder ihre Kamera einer herrlicher Landschaft entgegen. Sind wir denn wirklich so schlimm geworden?
Urbanski: Wir tauchen nicht mehr in das Erlebnis in der Natur ein, sondern machen Selfies mit oder Bilder von der Landschaft, um uns - zum Beispiel auf Facebook - zu zeigen. Soziale Interaktion spielt eine große Rolle heute - wir sind mit unseren Smartphones ständig vernetzt.
SPIEGEL ONLINE: Die Romantik hat ausgedient?
Urbanski: Die romantische Vision steht immer noch als Motivation dahinter, aber wenn wir dann dort sind, beginnen wir mit einem Konsumieren von Natur. Wir machen ein Foto - und das ist es dann. Menschen reisen an magische Naturschauplätze, von denen sie in Reiseführern gelesen haben oder in Büchern wie "1000 Places to see before you die". Und was machen sie dort? Sie holen die Kamera heraus und machen Bilder - manchmal verbringen sie dafür nur zwei Sekunden an den großartigsten Schauplätzen der Natur.
SPIEGEL ONLINE: Können wir uns nicht besser erinnern, wenn wir den schönen Moment als Bild festhalten?
Urbanski: Das hängt davon ab, wie stark wir den Moment erlebt haben. Die Leute sind aber oft so fokussiert auf das Fotografieren, sie verwenden ihre ganze Zeit nur darauf, Bilder zu machen. Ich habe das beobachtet - wirklich!
SPIEGEL ONLINE: Da fragt man sich, was besser ist: ein Beweis oder Erinnerung pur?
Urbanski: Eine platonische Frage. Im Werk "Phaidros" lässt Platon Sokrates über die Erfindung der Schrift als Bewahrung von Wissen diskutieren. Es geht darüber, ob die Schrift unsere Erinnerung ersetzen wird. Ob wir uns nicht mehr aktiv erinnern und alles nur noch rein mechanisch abrufen. Diese Überlegung kann man auch auf die Fotos übertragen. Wird der besondere Moment durch die Fotos von seinem ursprünglich angedachten Speicherort gelöscht, der Erinnerung?
SPIEGEL ONLINE: Wie halten Sie es persönlich damit - vernachlässigen Sie einen schönen Moment oft für eine gelungene Aufnahme?
Urbanski: Ja, sicher. Aber ich arbeite auch als Fotograf.
SPIEGEL ONLINE: Sie zitieren auf ihrer Website nicht nur den Maler Caspar David Friedrich , ihre Fotos sehen seinen Bildern auch ähnlich. Gehört das zum Konzept?
Urbanski: Meine Serie ist sogar eine Referenz an die Künstler der Romantik, vor allem an Friedrich. Auf seinen Gemälden sieht man Menschen, die in die Natur gehen und es genießen, sich in etwas Größerem zu befinden, als Menschenhand je kreiert hat. Die Natur gibt ihnen dabei eine besondere Erfahrung, die pur ist und die man nicht in Gesellschaft machen kann. Ich wollte meinen Fotos denselben malerischen Anstrich geben. Gleichzeitig wollte ich zeigen, wie wir heute besondere Ausblicke in der Natur erleben.
SPIEGEL ONLINE: Was hat Ihre Aufmerksamkeit auf die Protagonisten Ihrer Bilder gelenkt - auf die Frau im Strohhut etwa am Aletschgletscher in der Schweiz?
Urbanski: Das Licht am Gletscher war an diesem Tag fantastisch -surreal wie eine gemalte Kulisse aus Hollywood. Ich verbrachte viele Stunden dort. Fast am Ende des Tages kam eine chinesische Reisegruppe auf eine kurze Stippvisite. Eine Frau löste sich aus der Gruppe, nahm ihre Kamera, machte ganz hingebungsvoll mehrere Bilder. Ein großartiges Motiv für mich in einem großartigen Moment.
SPIEGEL ONLINE: Man sieht Ihre Protagonisten meistens nur in der Rückenansicht - ist das Absicht?
Urbanski: Ja. Ich will, dass sich jeder darin wiederfinden kann. Die Person im Bild könnte jeder von uns sein. Würden wir ein Gesicht sehen, verlören wir dieses Gefühl. Ein Foto jedoch bricht dieses Prinzip, weil man darüber lächeln muss. Ich habe darüber nachgedacht, das Bild aus der Serie zu nehmen.
SPIEGEL ONLINE: Es ist nicht schwer zu erraten, welches.
Urbanski: Eine Frau, die in einer seltsamen Haltung Bilder von einem Wasserfall macht. Das ist eher eine anekdotische Situation wie bei Martin Parr und passt nicht ganz zur Serie, die eigentlich wie ein Traum anmuten soll.
SPIEGEL ONLINE: Gab es auch einmal eine überraschende Situation?
Urbanski: Ja, vor der Tempelanlage Angkor Wat. Ein Reisebuch empfiehlt, dass man am besten um vier Uhr morgens aufsteht, weil man zu dieser Zeit dort ganz alleine ist und ein traumhaftes Bild vom Sonnenaufgang über dem Tempel machen kann. Als ich dort hinging, saßen Hunderte von Menschen mit der Kamera auf den Treppenstufen. Das ist Massenindividualismus. Eine unerwartete Weiterentwicklung für mein Fotoprojekt.
SPIEGEL ONLINE: Gibt es Ihrer Meinung nach einen Weg zurück - zum entspannten Genießen? Oder ist es dafür zu spät?
Urbanski: Vermutlich. Menschen und Zeiten werden sich ändern, die Technologie ändert sich - aber ich denke, nicht zurück in Richtung des romantischen Innehaltens. Das ist ein Traum, eine Vision. Wir wissen auch nicht, ob das jemals existiert hat - noch nicht einmal zu Friedrichs Zeiten. Aber ich hoffe, dass ich mit Bildern wie meinen ein bisschen Bewusstsein dafür schaffen kann.