Mückensee Island hoch zehn
Die Stadt hat alles, was es für ein Touristenzentrum braucht: zwei Hotels, eine Autowaschanlage, ein Freibad, ein Souvenirshop, ja, sogar einen Flughafen - und knapp 250 Einwohner.
Reykjalíð heißt das verschlafene Städtchen im Nordosten Islands, und es ist typisch für die Touristenorte der eigenwilligen Insel im Nordatlantik. Wie dahingewürfelt verteilen sich die wenigen Häuser in der weiten Landschaft, schmiegen sich an die Berge, halten respektvoll Abstand zum Ufer des nahe gelegenen Sees - ganz so als wollten sie den beschaulichen Uferblick nicht stören.
150.000 zahlende Gäste machen Jahr für Jahr in Reykjalíð Station, doch selbst in der Hochsaison wirken die wenigen Straßen wie ausgestorben - selbst um 12 Uhr mittags. Nur die vielen nicht-zahlenden Besucher sorgen für Bewegung: Millionen von Mücken statten der Region jeden Sommer einen Besuch ab.
Verantwortlich dafür ist der Mývatn, der "Mückensee". Mit einer Fläche von 38 Quadratkilometern ist er knapp halb so groß wie der bayerische Chiemsee, dafür gerade einmal fünf Meter tief. Die geringe Tiefe lässt die sommerlichen Wassertemperaturen selbst im kühlen Island auf 25 Grad Celsius steigen. Ideal für Algen, noch besser für Mückenlarven.
Einheimische Autofahrer erzählen - und das nicht erst nach dem einen oder anderen Bier - gerne von Mückenwolken, die wie Nebelschwaden über die Straße ziehen und jedem Verkehrsteilnehmer die Sicht rauben. Die Polizei warnt vor Mücken-Aquaplaning. In der lokalen Tankstelle, die gleichzeitig als Supermarkt dient, sind Mückensprays und Insektennetze heiß begehrt.
Besonders die Gäste des ufernahen Campingplatzes leiden unter der schwirrenden Plage. Dafür werden sie mit einem herrlichen Blick auf den See und seine seltene Vogelwelt und mit Hollywood-reifen Sonnenuntergängen entlohnt. Und mit einer selbst für Island untypischen Konzentration natürlicher Sehenswürdigkeiten: Geologisch-aktive Zonen, Vulkane, Steilküsten und Wasserfälle lassen sich vom Mückensee aus innerhalb kürzester Zeit erreichen.
Wenn Island als Europa im Kleinen gilt, als überwältigendes Naturpanorama, das auf einer Fläche doppelt so groß wie Niedersachsen Kontraste pur bietet, dann stellt das Mývatn-Gebiet noch einmal eine deutliche Steigerung dar. Island hoch zehn.
Im Hinterland des Mückensees, schon einen Kilometer vom Wasser entfernt, fängt die Erde urplötzlich an zu dampfen. Allerorten zeugen weiße Rauchwolken davon, dass Island - auch 16 Millionen Jahre, nachdem die Insel aus dem Atlantik auftauchte - noch immer geologisch aktiv ist.
Nirgendwo zeigt sich das besser als rund um den 818 Meter hohen Vulkan Krafla. Und nirgendwo zeigt sich deutlicher, wie sehr die Isländer auf ihren instabilen Untergrund bauen: Ein Gewirr von metallisch-sterilen Rohren zieht sich durch die ockergelbe Wüste rund um den Feuerberg - Zeichen für die geothermische Ausbeutung der Region. Aus ein bis zwei Kilometern Tiefe fördern die Rohre 340 Grad heißen Dampf an die Oberfläche, der in einem nahen Kraftwerk in Fernwärme und Strom umgewandelt wird.
Die vielen Bohrlöcher haben das Gebiet nicht nur optisch verschandelt. Glaubt man den Bewohnern der Mývatn-Region, hat seit Beginn der geothermischen Nutzung auch die vulkanische Aktivität der Krafla deutlich zugenommen. Mehrere Ausbrüche und Erdbeben sollen vom gestörten inneren Gleichgewicht des Berges zeugen.
Und dass dieser äußerst aktiv ist, lässt sich sowohl ober- als auch unterhalb des Kraftwerks sehen: Wege führen durch ein Gebiet, in dem Schlammtümpel blubbern, Erdspalten sich öffnen und kleine Schlote ein Gemisch aus Wasser und Dampf in die Höhe schießen. In der Luft liegt der Geruch von faulen Eier, auf den dunklen, zerklüfteten Lavafelsen wachsen gelbliche Schwefelkristalle.
Verantwortlich für die vulkanischen Aktivitäten ist die unruhige Erdkruste. Quer durch Island verläuft eine Grenze, die Grenze zwischen der eurasische und nordamerikanische Erdplatte. Beide schwimmen auf einem Meer aus flüssigem Gestein, reiben sich unaufhörlich aneinander und lassen die Hitze aus den Tiefen der Erde an die Oberfläche drängen.
Auch wenn eine exakte Grenze zwischen den Platten nicht existiert, mit etwas Phantasie können Wanderer auf Island mit einem Bein in Europa und mit dem anderen in Amerika stehen. Besonders am Ostufer des Mückensees, an der Spalte zur Grjótagjá, bieten sich solche Balanceakte an. Geborstene Rohrleitungen und Zäune mitten in der Landschaft machen deutlich, dass die beiden Platten tatsächlich auseinander driften.
Tief unter der Spalte befindet sich eine mit Wasser gefüllte Kammer, die Grjótagjá. Bis vor wenigen Jahren war es dort noch möglich, bei einer Wassertemperatur von angenehmen 40 Grad Celsius zu baden. Mittlerweile haben die Behörden ein Badeverbot erlassen. Die unterirdische Kammer misst rund 50 Grad - auch eine der Folgen zunehmender vulkanischer Aktivitäten rund um den Mückensee.
Die beste Reisezeit für den Norden Islands ist Mai bis August, dann sind die Straßen meist schneefrei und das Wetter halbwegs stabil. Das Mývatn-Gebiet ist von Islands Hauptstadt Reykjavik am besten mit einem Mietwagen über die größtenteils asphaltierte, insgesamt 1340 Kilometer lange Ringstraße zu erreichen. Zudem existieren regelmäßige Linienbusverbindungen. Im Sommer gibt es gelegentliche Charterflüge zwischen Reykjavik und dem Mývatn-Gebiet. Der nächste regelmäßig angesteuerte Flughafen ist in Akureyri.