Gemächlich gen Westen im Edelweiß-Express: Dieses Reiseerlebnis in China wird bald nicht mehr möglich sein. Ein neuer Hochgeschwindigkeitszug verkürzt die Fahrzeit von 22 auf 12 Stunden. Die teure Trasse gibt einige Rätsel auf.
Bitte nicht mit Steinschleudern auf Züge schießen.
Bitte nicht auf Waggons klettern.
Bitte keine Drachen steigen lassen am Gleis.
Bitte keine Kühe über die Trasse führen.
Bitte keine Spaziergänge durch Bahntunnel machen.
Ein kleines Büchlein im Abteil erklärt, was Reisende so alles beachten sollten. Als ob man den Chinesen noch das Bahnfahren erklären müsste! In keinem Land der Erde sind täglich mehr Menschen in Zügen unterwegs.
Draußen ziehen die öden Steppen der Xinjiang-Provinz vorbei, drinnen sind die Sicherheitshinweise nun auch auf Uigurisch zu lesen. Das Alphabet besteht aus persischen und arabischen Schriftzeichen. Wie weit der moderne Osten Chinas von hier entfernt ist, merkt man schon an Alter und Sauberkeit der Waggons. Müll liegt auf unbenutzten Betten, und die Scheiben des Zuges sehen aus, als seien sie zuletzt in der Qing-Dynastie gereinigt worden.
Xinjiang ist hier hauptsächlich hellbraun, sandig, sehr karg, aber überall mit Stromleitungen durchzogen. Und immer wieder ist direkt nebenan die neue Schnellzugtrasse zu sehen, manchmal auf einem Podest aus Beton, manchmal auf hohen Pfeilern.

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Bald wird es den Passagierzug K595 wohl nicht mehr geben. Er braucht 22 Stunden von Lanzhou bis Ürümqi, der seit Ende Dezember verkehrende Hochgeschwindigkeitszug schafft die 1776 Kilometer dagegen in knapp zwölf Stunden. Obwohl er unterwegs an 31 Bahnhöfen hält. Etwa 18 Milliarden Euro hat das Großbauprojekt gekostet. Die Route weicht teilweise von der bisherigen ab und führt durch die tibetisch geprägte Qinghai-Provinz - durch teils erheblich unwegsameres Gelände und bis auf 3600 Meter Höhe.
Warum diese wirtschaftlich bislang eher unbedeutende Region einen 350-km/h-Schnellzug bekam, sorgt für Spekulationen. Es handle sich um eine "politische Route, eine ökonomische Route und eine Route der Freude", schreiben die Staatsmedien. "Der Gedanke dahinter ist in China immer ganz einfach", sagt der Mitreisende Karim (Name geändert), ein uigurischer Ingenieur aus Ürümqi. "Erst wird die Infrastruktur verbessert, dann erwartet man, dass der wirtschaftliche Boom quasi automatisch folgt. Und die Han-Chinesen hoffen, dass kritische Stimmen in Unruheregionen verstummen, wenn sich die ökonomische Situation verbessert."
Vor acht Jahren, als die Bahnstrecke ins tibetische Lhasa fertiggestellt wurde, spielten solche Erwägungen eine Rolle. Nun ist es viel einfacher, auf dem Landweg nach Xinjiang zu gelangen. Auf der Strecke, wo jahrelang der K595 gemächlich gen Westen ratterte, sollen fast nur noch Güterzüge verkehren. "Für mich sieht das so aus: Per Schnellzug werden mehr Han-Chinesen hereingebracht, und auf der alten Trasse werden mehr Güter herausgebracht", sagt Karim. 30 Prozent von Chinas Ölreserven befinden sich unter dem Wüstenboden von Xinjiang, außerdem gibt es enorme Kohlevorkommen. "Das bringt sicher die chinesische Wirtschaft nach vorne, aber hilft es auch den Uiguren?" Viele der muslimischen Einwohner der Provinz wären gerne unabhängig von der Zentralregierung in Peking, immer wieder kam es in den vergangenen Jahren zu Terroranschlägen.

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Aus den Lautsprechern ertönt vor jeder Stationsansage die Melodie von "Edelweiß" aus dem Sechzigerjahre-Alpenromantik-Heimatfilm "Sound of Music" , gespielt von einer Panflöte. Ein grotesker Gegensatz zur Marslandschaft vor dem Fenster. Dort sind nun Hunderte Windräder zu sehen, sie drehen sich schnell, es ist stürmisch. Der neue Schnellzug ist auf 67 Kilometern seiner Strecke durch einen Windschutzwall gesichert, damit er nicht zu oft abbremsen muss. Die Gefahr ist erheblich realer als die von Steinschleuder-Attacken: 2007 starben vier Passagiere, als ein Sturm einen Zug nach Ürümqi zum Entgleisen brachte.
Weder Wind noch Kühe noch Steinschleudern werden den Fortschritt in der Xinjiang-Provinz aufhalten. Unter dem Schlagwort "Chinesischer Traum" entwickelt sich das Land mit großem Tempo. Und ähnlich wie dereinst beim "Amerikanischen Traum", eine seltsame Parallele ist das, gehört auch hier das Streben gen Westen mit Eisenbahnschienen dazu: "China dreams - full steam ahead" steht auf einem Plakat an der Abteilwand, das einen Hochgeschwindigkeitszug zeigt.

5500 Kilometer, eine Zeitzone: Stephan Orth reist per Zug quer durch China, von Ost nach West. Die achtteilige Serie führt von Shanghai bis in die entlegene Seidenstraßenstadt Kashgar ¿ und durch ein Land voller Widersprüche und Extreme.