Per Zug durch China Der Herzschlag des Drachens

5500 Kilometer, eine Zeitzone: Stephan Orth reist per Zug quer durch China, von Ost nach West. Eine achtteilige Multimedia-Story führt von Shanghai bis in die entlegene Seidenstraßenstadt Kashgar – durch ein Land voller Widersprüche und Extreme.

Die Zugfront mit den schmalen Scheinwerferaugen sieht aus wie ein weiß glänzender Drachenkopf. Drachen gelten in China als freundliche Gesellen. Menschenmassen drängeln sich von der Rolltreppe zu den Waggontüren. Aus den Lautsprechern der Abteile tönt "Conquest of Paradise" von Vangelis, ein bisschen weniger Pomp hätte es auch getan. Planmäßige Abfahrt 10.26 Uhr, um 10.25 Uhr setzen sich die Räder des G7048 in Bewegung. Von Shanghai aus westwärts, das G steht für gao tie, Schnellzug.

Eine Schaffnerin fegt mit einem Staubwedel zwischen den Füßen der Passagiere, eine andere geht mit einem Wagen voller Bananen, Äpfel und Orangen durch den Gang, eine dritte hat Bier und Nudelsuppe in Papptöpfen im Angebot. Dienstleistungsoase China: Während sich in deutschen Zügen zwei oder drei Bahnmitarbeiter um die Gäste kümmern, sind es hier mindestens dreimal so viele.

Waggon eins ist bis auf den letzten mit lila Stoff überzogenen Sitz ausgebucht. Es heißt, in jeder Minute seien zehn Millionen Chinesen in irgendeinem huoche unterwegs, huo heißt Feuer und che Wagen, China ist das Eisenbahnland Nummer eins. Nirgendwo fahren mehr Menschen mit dem Feuerwagen, nirgendwo werden aktuell mehr neue Gleise verlegt.

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Von Shanghai nach Wuxi

Foto: © Claro Cortes / Reuters/ REUTERS

In den nächsten Tagen werde ich dieses Land durchqueren. Von Ost nach West, von der Finanz-Megacity Shanghai zum Seidenstraßen-Handelsplatz Kashgar, 5500 Kilometer auf Schienen mit einigen Zwischenstopps. Meine Uhr muss ich trotz der Distanz nie umstellen, denn in China gilt überall Peking-Zeit. Ich will erkunden, wie heute die Wirklichkeit in der Peking-Zeit aussieht, welche Wahrheiten und Widersprüche sich in dem Land verbergen, das sich schneller entwickelt als jedes andere. Und wie sich das Land verändert, je weiter man nach Westen vordringt.

Überall Kräne und Baustellen

"Ich mag keine Züge", sagt meine Sitznachbarin Chan Yuenhei, eine 23-jährige Japanischstudentin aus Shanghai. "Es gibt hier Diebe, man kann schlecht schlafen, die Klos sind zu klein und dreckig, und manchmal gibt es Unfälle. Ich fliege viel lieber." Sie ist auf dem Weg zu Verwandten bei Wuxi. 50 Minuten Fahrt, ein Flugzeug würde sich nicht lohnen. Eine rote LED-Anzeige zeigt an, dass wir schon mit 295 km/h unterwegs sind. Wer weiß, ob dieser weiße Drache nicht doch noch abhebt.

Draußen ziehen Hochhausblöcke und Hochhausbaustellen vorbei. Und Kräne, unzählige Kräne. Würde sich jemand die Mühe machen, alle Baustellen der Welt durchzuzählen, ich würde jede Wette eingehen, dass es in China mit Abstand die meisten gibt. Gebaut wird meistens gleich in Zehner- oder Zwanziger-Gruppen, mindestens 25 Stockwerke pro Gebäude. Ein Hochhaus mehr passt immer, bis alles Brachland zur nächsten Megacity bebaut ist. "Alle chinesischen Städte sehen gleich aus", sagt Chan, und auf den ersten hundert Kilometern kann ich nichts Gegenteiliges feststellen.

Wir rauschen durch nagelneue Bahnhöfe, die es in der Nähe von Shanghai nur in zwei Ausführungen zu geben scheint: mit opulentem Halbrund-Tunneldach und in Säulenbauweise mit Flachdach, immer sehr sauber, sehr hoch, mit polierten Bodenfliesen, in denen sich die wartenden Passagiere spiegeln.

Foto: Stephan Orth

Ich laufe durch ein paar Waggons und beobachte abteilweise verschiedene Varianten des Zeittotschlagens: Handyfilme gucken, Wechat-Nachrichten verschicken (Chinas WhatsApp-Klon ist so chinesisch, dass es sogar einen Smilie gibt, der mit Hand vor dem Mund grinst), Karten spielen, Videospiele zocken, Nudelsuppe schlürfen, Bier trinken, Selfies knipsen, kuscheln, streiten, schlafen, sticken, immer begleitet vom pock-pock der Zugräder auf den Gleisen, regelmäßig wie ein Herzschlag.

Glück, Reichtum, Macht

In einem Schlafabteil sitzen Frau Li und Frau Lu, zwei Sprachstudentinnen aus Xian, die heißen wirklich so. Sie essen Suppe aus Pappbehältern und fragen, ob ich allein unterwegs sei. Als ich bejahe, blicken sie mich etwa so an, wie man einen kleinen Hund anguckt, der auf einem Bein fürchterlich hinkt.

Aber sie lieben Deutschland, vor allem wegen der hervorragenden Küchengeräte. Und sie erklären mir die zwölf Tierkreiszeichen. Beide sind 1981 geboren: "Im Zeichen des Hahnes. Der gilt als fleißig und bodenständig, aber auch gewitzt", sagt Li. Populärer seien zwei andere Tiere: "Viele Paare versuchen, im ma nian oder im long nian Kinder zu kriegen, im Jahr des Pferdes oder im Jahr des Drachens." Denn das verspreche besonders vorteilhafte Charaktereigenschaften. "Der Drache steht für Glück, Reichtum und Macht", erklärt sie. "Er ist tatkräftig und entschlossen, kann aber auch kompromisslos und gierig sein."

Wie sie so von Hähnen und Drachen erzählt, muss ich an ein bekanntes Buch des Reiseschriftstellers Paul Theroux denken, das von Bahnreisen in China handelt. Er nannte es "Riding the Iron Rooster", eine Reise im eisernen Hahn. Mehr als 25 Jahre ist das her. Waren damals die Züge noch fleißige, bodenständige Arbeitstiere, wie es das Tierkreiszeichen vorgibt? Ihre heutigen Nachfolger, die mit 300 km/h und mehr durchs Land schießen, erwecken nicht mehr diesen Eindruck. Sie sind kompromisslose, entschlossene Drachen.

Per Zug durch China
Foto: Stephan Orth

5500 Kilometer, eine Zeitzone: Stephan Orth reist per Zug quer durch China, von Ost nach West. Die achtteilige Serie führt von Shanghai bis in die entlegene Seidenstraßenstadt Kashgar ¿ und durch ein Land voller Widersprüche und Extreme.

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