Per Zug durch China Am letzten Wachturm der Großen Mauer

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Vor großen Bauprojekten sind die Chinesen noch nie zurückgeschreckt. Früher errichteten sie eine gigantische Mauer um ihr Reich, heute bauen sie Hochhäuser und Bahngleise. Die über 8000 Kilometer lange Mauer endete im Westen in Jiayuguan, dahinter kamen nur karge Steppen und Wüsten, dahinter war China zu Ende. Das unfruchtbare Land interessierte niemanden, weil man damals noch nicht ahnte, was man so alles mit Erdöl anstellen kann.
"Du musst hier einen chinesischen Satz lernen", sagt der Bahnhofsangestellte Hu, der mit seinen Kolleginnen Yun und Songyang einen Ausflug macht zum Mauer-Museum mit Freiluft-Siedlungsnachbau. "Bu dao chang cheng fei hao han - wer nicht auf der Großen Mauer war, ist kein richtiger Mann", gibt der 24-Jährige einen berühmten Mao-Ausspruch wider.
Heute befindet sich die Grenze 2000 Kilometer weiter westlich als zur Zeit des Mauerbaus, und Besucher können von den Zinnen des spektakulären Grenzforts in Jiayuguan (Aussprache: Dschia-ü-guan) die Güterzüge beobachten. Die modernen Nachfolger der Seidenstraßen-Karawanen rattern weiter nach Westen, in Richtung der krisengeplagten Xinjiang-Provinz.
Der letzte Wachturm der Chinesischen Mauer überragt den Lai-Fluss, auf der anderen Seite beginnt die Qilian-Bergkette mit ihren bis zu 5800 Meter hohen Gipfeln. Ein natürlicher Schutzschild, der die damaligen Baumeister hoffen ließ, vor Eindringlingen sicher zu sein.
"Du bist der erste Ausländer, den ich kennenlerne", sagt Hu. Eine verblüffende Aussage, schließlich arbeitet er jeden Wochentag am Bahnhof. Und ein guter Grund, um etwa alle 15 Meter ein gemeinsames Foto zu machen. Vor runden Lehmhütten, die an eine Star-Wars-Kulisse erinnern. Vor einer Skulptur saufender Soldaten aus der Tang-Dynastie, die sich nach der Schlacht mit Wein berauschen. Vor einer Sommerrodelbahn - Bespaßung muss ja immer sein an den besenreinen chinesischen Touristenattraktionen. Für mehr Spaß sorgen einige der Hinweis- und Ortsschilder dank ihrer charmant-dilettantischen Englisch-Übersetzungen. Während das "Chinglish" in vielen Großstädten mehr und mehr verloren geht, sind hier noch einige echte Stilblüten zu finden:

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Nur an wenigen Stellen sieht man dem Mauerabschnitt in Jiayuguan die mehr als 600 Jahre an, die er auf dem Buckel hat. Das Bauwerk wurde aufwendig restauriert, sodass es wie neu wirkt und jegliche Aura des Historischen verloren hat. "Chinesen sind pragmatisch und mögen keine alten Dinge", sagt Hu. "Weil die leicht kaputtgehen, an arme Zeiten erinnern und unbequem sind. Wir verstehen nicht, warum manche Europäer lieber in alten Häusern wohnen als in modernen."
Ein Neubau nach altem Bauplan ist dieser Einstellung gemäß auch das berühmte Fort: frisch verputzte Wände, kein Blatt oder Staubkorn auf dem Boden, makellos gestrichene Holzplanken mit heroischen Malereien unter den prächtigen Dächern. Ein paar Handwerker verputzen gerade die letzte Ecke am östlichen Guanghua-Turm, wo die Hülle noch nicht perfekt ist. Befänden sich Angkor Wat oder die Cheops-Pyramide in China, vermutlich sähen sie aus, als seien sie soeben gebaut worden.
Die Tourismuswerbung hat das Jiayuguan-Fort zu einem der zehn schönsten Landschaftsdenkmäler Chinas erklärt. Vor dem Hintergrund der Berge im Süden mit ihren Schneegipfeln ist das Panorama tatsächlich sensationell. Im Osten und Norden dagegen sieht man Stahlfabriken und Elektrizitätswerke. Die Aussicht könnte schon bald noch einen weiteren Störer erhalten, der wohl kaum als Landschaftsdenkmal durchgehen wird: In der Nähe soll eine riesige Uran-Aufbereitungsanlage entstehen, groß genug, um Atommüll nicht nur aus China, sondern auch aus Nachbarländern zu verwerten. Vor großen Bauprojekten sind die Chinesen noch nie zurückgeschreckt.

5500 Kilometer, eine Zeitzone: Stephan Orth reist per Zug quer durch China, von Ost nach West. Die achtteilige Serie führt von Shanghai bis in die entlegene Seidenstraßenstadt Kashgar ¿ und durch ein Land voller Widersprüche und Extreme.