

Eine passende Antwort auf die Frage »Was ist ein Luxusproblem?« wäre: wegen Corona für ein paar Monate nicht verreisen können. Sollte man sich angesichts der aktuellen Lage darüber beklagen? Nein. Darf man es dennoch vermissen? Aber klar.
Eigentlich ist ein erzwungener Hausarrest sogar bestens dafür geeignet, darüber nachzudenken, was man aus dem vorherigen Leben vermisst. Und was nicht. Vielleicht machen wir ja dann ab nächstem Sommer ein paar Dinge anders, bewusster, verändern unseren Fokus.
Reisen ist mein Beruf, ich schreibe Bücher darüber, und natürlich vermisse ich es in diesen Wochen und Monaten sehr. Aber mir fehlen nicht die Sehenswürdigkeiten, nicht die Strände, nicht das stundenlange Sitzen in unbequemen Verkehrsmitteln, nicht die Freude über einen neuen Stempel im Pass. Hauptsächlich fehlen Begegnungen mit Fremden, die Momente, in denen in einem Gespräch eine Verbindung entsteht, man etwas voneinander lernt oder eine Freundschaft beginnt.
Ein paar erlebte Begegnungen beschäftigen mich derzeit besonders, weil sie einen Nachhall hatten oder etwas in mir verändert haben. Kein Zoom-Meeting, keine Netflix-Serie, kein Telefonat kann das menschliche Live-Erlebnis ersetzen. Es wird schön, wenn das wieder möglich sein wird. Bis dahin sind hier zehn Geschichten von unterwegs:
Stephan Orth ist freier Reisejournalist und Reisebuchautor. Allein für seine »Couchsurfing«-Reihe war er in Iran, in Russland, China und Saudi-Arabien unterwegs.
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Nora aus Zhangjiajie in China machte mir einen ungewöhnlichen Vorschlag: eine dreitägige Gratisreise in die Dörfer der Hunan-Provinz, Verpflegung und Unterkunft inklusive. Als einzige Gegenleistung sollte ich in einer Fernsehshow mitspielen, die sie moderierte. Ich sagte sofort zu. Auch weil ich nicht wusste, was mir bevorstand.
Ich musste ein traditionelles Kostüm der Tujia-Minderheit anziehen und mich in diversen Wettkämpfen mit Einheimischen messen: Korbflechten, Weben und traditioneller Gesang. Derweil lief Nora um uns herum und kommentierte das Geschehen. In ohrenbetäubender Lautstärke, wie eine Sportreporterin, live auf Sendung vor Hunderttausenden Zuschauern.
Besonders wohl fühlte ich mich nicht. Erst Tage später verstand ich, dass Nora ein Genie ist. In einem Land, das besessen ist von Modernisierung und Hightech, zeigt sie ihrem Publikum, welch hohen Wert ländliche Traditionen und alte Bauwerke haben. Würde sie das im Ton eines Ethnologen machen, hätte sie vermutlich kaum Reichweite, wäre sie zu sozialkritisch, würde die Sendung aus dem Programm genommen.
Doch so erreicht sie mit ihrer schrillen, jugendlichen Art enorm viele Menschen. Das Thema liegt ihr auch wegen ihrer eigenen Geschichte sehr am Herzen: Als sie fünf Jahre alt war, wurde ihre Familie für ein Straßenbauprojekt aus ihrem alten Holzhaus vertrieben.
Reza aus Teheran ist einer der umtriebigsten Couchsurfing-Gastgeber in Iran. Ständig hat er Besuch in seiner Wohnung, mehr als tausend Gäste waren es insgesamt schon, vor sieben Jahren war ich einer davon. Er ist studierter Philosoph, nahm mich mit zu einem wunderbaren Literaturabend im Stadtpark, wo junge Menschen Gedichte von Omar Khayyam rezitierten.
Reza setzt sich für Völkerverständigung ein, als Antidot gegen Hass und Konflikte. Sogar sein Couchsurfing-Spitzname »Peacegulf« spielt darauf an – im Streit, ob ein bekannter Meeresarm auf Landkarten »Persischer Golf« oder »Arabischer Golf« heißen sollte, ist dies sein Kompromissvorschlag.
Doch er bekam Ärger mit den Behörden. Die vielen Gäste waren dem Geheimdienst suspekt. Rezas Vorschlag, eine Passregistrierung für Privatgäste einzuführen, wie es sie auch für Hotels gibt, wurde abgeschmettert. Trotz mehrfacher Ermahnungen hörte er nicht auf, Ausländer bei sich aufzunehmen. Und zahlte einen hohen Preis für seine Gastfreundlichkeit: Für fünf Monate steckten sie ihn ins berüchtigte Evin-Gefängnis, wegen »Propaganda gegen die islamische Republik«.
Bei Nadia aus Nowosibirsk habe ich den russischen Führerschein gemacht. Zunächst auf die (für mich) einfachste Art: Mein internationaler Lappen war nicht mehr gültig, sie retuschierte kunstvoll das Ablaufdatum, damit wir ein Auto mieten konnten. Beim folgenden Roadtrip in der spektakulären Altai-Bergregion folgte dann die Praxisausbildung. Ein paar Lektionen sind mir besonders im Gedächtnis geblieben:
a) Um beim Überholen noch zehn Prozent mehr Tempo aus dem Wagen herauszuholen, empfiehlt es sich, laut zu rufen: »Dawai, dawai, dawai! Blin!«
b) Sollte das dennoch nicht reichen, ist ein Abbruch und Wiedereinordnen hinter dem vorausfahrenden Auto ein Standardmanöver, das mehrmals pro Stunde geübt werden sollte.
c) Ein russisches Sprichwort besagt: Je besser dein Auto ist, desto weiter muss der Traktor fahren. Weil jeder, der die geteerte Straße verlässt, sowieso früher oder später steckenbleibt – wenn es schnell passiert, hat es das Bergungsfahrzeug wenigstens nicht so weit.
Sung aus Südkorea wohnt an einem sehr speziellen Ort: Im Nordosten Chinas betreibt er mit seiner Familie ein Restaurant, direkt am Jalu-Fluss, dessen gegenüberliegendes Ufer bereits zu Nordkorea gehört. Er kann von dort jeden Morgen die Propaganda-Lautsprecherdurchsagen hören, im Radio laufen Songs, die den großen Führer Kim Jong Un preisen. Dennoch dürfte er nicht ins 300 Meter entfernte Nachbarland rüberpaddeln, weil das für Südkoreaner verboten ist.
An einem Abend sprachen wir über Diktaturen und Demokratien. Er hielt die beiden Systeme für weniger unterschiedlich, als häufig angenommen wird. Ich stimmte ihm nicht zu: »Bei uns kann man demonstrieren und eine andere Partei wählen, wenn man einen Wandel will«, sagte ich. Er antwortete nur: »Klar, und dann wählt man jemanden wie Donald Trump, der nicht gut für das eigene Land ist. In Demokratien wird die öffentliche Meinung doch auch manipuliert.« Wir kamen zu keiner Einigung, aber er hatte da einen Punkt.
Hassan aus Abha in Saudi-Arabien traf ich auf einem Spielplatz, während der Pause einer Autofahrt im Gebirge. Nach etwa zwei Minuten Gespräch lud er mich für den nächsten Tag nach Hause ein. Er wohnt in einer Art Palast, mit Zierschwertern als Dekoration, edlen Teppichen und einer eindrucksvollen Sammlung von Fasanen und Ziervögeln.
Außerdem gehört seiner Familie eine jahrhundertealte Festungsruine auf einem Hügel, wo ich der erste ausländische Besucher war. Eine exklusive Erfahrung in einem Land, in dem viele Menschen sehr auf Privatsphäre bedacht sind. Ich nehme mir nach jeder Reise vor, auch in Deutschland mal einfach jemand Fremdes von der Straße weg zum Tee einzuladen. Nach Ende der Corona-Einschränkungen schaffe ich es bestimmt.
Devi hat einen indonesischen Vater und eine deutsche Mutter und wuchs im sächsischen Freital auf. Früher war sie Sozialarbeiterin und Hausbesetzerin, heute ist sie Wanderführerin im konservativsten Teil Georgiens. In der Region Tuschetien gingen wir zusammen in die Berge, sie kennt dort jeden Stein. »Freunde haben mir geraten, Touren zu Weinverkostungen oder historischen Stätten anzubieten. Aber das ist mir zu langweilig«, sagte sie.
Tatsächlich kam keine Langeweile auf, während wir unterwegs waren. Nicht nur wegen der atemberaubenden Landschaft, sondern auch wegen unserem Fahrer, ihrem tuschetischen Ex-Mann und Geschäftspartner Vacho. Der kam nicht damit zurecht, dass sie der Boss ist, wenn es um ausländische Touristen geht, und fing ständig Streit an. Bis er zuletzt betrunken und schimpfend mit einem Stock in der Hand vor uns stand und erst nach viel gutem Zureden auf Nimmerwiedersehen verschwand.
Devi musste einen neuen Fahrer suchen. »Ist schon schön hier, aber manche Leute spinnen«, sagte sie. »Aber ich will trotzdem nirgendwo anders auf der Welt leben.«
Im indischen Rischikesch habe ich bei dem Couchsurfer Nipun gewohnt. Ein Suchender nach innerer Balance, der ständig von »Shanti Shanti« sprach, innerem Frieden. Und dabei ein so ansteckend heiteres Gemüt hatte, dass jeder in seiner Gegenwart ein bisschen Shanti abbekam.
Tagsüber machten wir Motorradtouren in die Berge, dann nahm er mich mit zu einer Osho-Meditation, abends saßen wir mit vielen anderen am Ganges und spielten Gitarre und sangen Lieder. »Wenn du aufhörst zu feiern und zu tanzen, verlierst du die Verbindung zum Leben«, sagte er.
Pawan aus Kathmandu arbeitet seit mehr als zwei Jahrzehnten als Wanderführer im Himalaja. Everest Basecamp Trek, Annapurna-Runde, Langtang – die Klassiker Nepals. Die meisten Menschen in seinem Metier sind gut darin, die Natur als besonders spektakulär und magisch anzupreisen, in der Hoffnung, dass diese Begeisterung auf die Touristen überschwappt.
Nicht so Pawan, der in einem Bergdorf aufgewachsen ist. Aus meiner Sicht hat er einen Traumjob in einer der schönsten Regionen der Welt, doch er sieht das Ganze eher nüchtern. »Was findet ihr nur an diesen Schneegipfeln? Es ist kalt im Zelt, und von der Höhe bekommt ihr Kopfschmerzen«, sagte er. Jederzeit würde er sein Leben gegen ein Beamtendasein in Hamburg oder München eintauschen. Ich fand seine Ehrlichkeit erfrischend.
May aus Macau war meine Couchsurfing-Gastgeberin, als ich dort einen Text über die Casinos schreiben wollte. Ich hoffte, von ihr ein paar gute Informationen zu bekommen, doch sie sagte nur, sie sei noch nie dort gewesen und verabscheue das Glücksspiel. »Die Casinos zerstören die Stadt. Die jungen Leute werden Croupier, anstatt zu studieren, weil sie damit mehr Geld verdienen. Außerdem kommen immer weniger Zugvögel, wegen der Lichtverschmutzung.«
Dann zeigte sie mir die Altstadt, einen wunderbaren Park und fotogene Ruinen alter Schiffswerften. Und erzählte mir die Geschichten dieser Orte. Ich musste zugeben: Im Vergleich dazu sind die Casinos tatsächlich nicht so interessant.
Dieser Tuk-Tuk-Fahrer im thailändischen Chiang Mai hatte viele Pläne mit mir, die allesamt von meinem Wunsch abwichen, zu einem anständigen Preis auf möglichst direktem Weg vom Wat-Doi-Suthep-Tempel zum Hostel zu gelangen. Zunächst lautete der Vorschlag »Massage? Ladies?«, dann wollte er mich zu einem Schneider, einem Schmuckladen und einem Souvenirshop (»Free town map!«) bringen. In der Hoffnung, dort eine Kommission zu kassieren, wenn ich unnützes Zeug kaufte.
Nachdem ich auch noch eine »very cheap« Tour zu den Topattraktionen der Stadt abgelehnt hatte, wollte er am Ziel plötzlich den doppelten Preis von dem, was wir anfangs ausgemacht hatten. Wir stritten minutenlang, schließlich drückte ich ihm den vereinbarten Bündel Banknoten in die Hand und lief unter seinen Flüchen davon.
Heute frage ich mich, was der Mann gerade macht. Vermutlich sind kaum Touristen da, vielleicht muss er wegen der Viruskrise viel zu Hause sein. Ich sitze ebenfalls zu Hause und denke das Undenkbare: Ich vermisse den Tuk-Tuk-Fahrer in Chiang Mai.
Nora aus Zhangjiajie in China machte mir einen ungewöhnlichen Vorschlag: eine dreitägige Gratisreise in die Dörfer der Hunan-Provinz, Verpflegung und Unterkunft inklusive. Als einzige Gegenleistung sollte ich in einer Fernsehshow mitspielen, die sie moderierte. Ich sagte sofort zu. Auch weil ich nicht wusste, was mir bevorstand.
Ich musste ein traditionelles Kostüm der Tujia-Minderheit anziehen und mich in diversen Wettkämpfen mit Einheimischen messen: Korbflechten, Weben und traditioneller Gesang. Derweil lief Nora um uns herum und kommentierte das Geschehen. In ohrenbetäubender Lautstärke, wie eine Sportreporterin, live auf Sendung vor Hunderttausenden Zuschauern.
Besonders wohl fühlte ich mich nicht. Erst Tage später verstand ich, dass Nora ein Genie ist. In einem Land, das besessen ist von Modernisierung und Hightech, zeigt sie ihrem Publikum, welch hohen Wert ländliche Traditionen und alte Bauwerke haben. Würde sie das im Ton eines Ethnologen machen, hätte sie vermutlich kaum Reichweite, wäre sie zu sozialkritisch, würde die Sendung aus dem Programm genommen.
Doch so erreicht sie mit ihrer schrillen, jugendlichen Art enorm viele Menschen. Das Thema liegt ihr auch wegen ihrer eigenen Geschichte sehr am Herzen: Als sie fünf Jahre alt war, wurde ihre Familie für ein Straßenbauprojekt aus ihrem alten Holzhaus vertrieben.
Foto: Stephan OrthReza aus Teheran ist einer der umtriebigsten Couchsurfing-Gastgeber in Iran. Ständig hat er Besuch in seiner Wohnung, mehr als tausend Gäste waren es insgesamt schon, vor sieben Jahren war ich einer davon. Er ist studierter Philosoph, nahm mich mit zu einem wunderbaren Literaturabend im Stadtpark, wo junge Menschen Gedichte von Omar Khayyam rezitierten.
Reza setzt sich für Völkerverständigung ein, als Antidot gegen Hass und Konflikte. Sogar sein Couchsurfing-Spitzname »Peacegulf« spielt darauf an – im Streit, ob ein bekannter Meeresarm auf Landkarten »Persischer Golf« oder »Arabischer Golf« heißen sollte, ist dies sein Kompromissvorschlag.
Doch er bekam Ärger mit den Behörden. Die vielen Gäste waren dem Geheimdienst suspekt. Rezas Vorschlag, eine Passregistrierung für Privatgäste einzuführen, wie es sie auch für Hotels gibt, wurde abgeschmettert. Trotz mehrfacher Ermahnungen hörte er nicht auf, Ausländer bei sich aufzunehmen. Und zahlte einen hohen Preis für seine Gastfreundlichkeit: Für fünf Monate steckten sie ihn ins berüchtigte Evin-Gefängnis, wegen »Propaganda gegen die islamische Republik«.
Foto: Stephan OrthBei Nadia aus Nowosibirsk habe ich den russischen Führerschein gemacht. Zunächst auf die (für mich) einfachste Art: Mein internationaler Lappen war nicht mehr gültig, sie retuschierte kunstvoll das Ablaufdatum, damit wir ein Auto mieten konnten. Beim folgenden Roadtrip in der spektakulären Altai-Bergregion folgte dann die Praxisausbildung. Ein paar Lektionen sind mir besonders im Gedächtnis geblieben:
a) Um beim Überholen noch zehn Prozent mehr Tempo aus dem Wagen herauszuholen, empfiehlt es sich, laut zu rufen: »Dawai, dawai, dawai! Blin!«
b) Sollte das dennoch nicht reichen, ist ein Abbruch und Wiedereinordnen hinter dem vorausfahrenden Auto ein Standardmanöver, das mehrmals pro Stunde geübt werden sollte.
c) Ein russisches Sprichwort besagt: Je besser dein Auto ist, desto weiter muss der Traktor fahren. Weil jeder, der die geteerte Straße verlässt, sowieso früher oder später steckenbleibt – wenn es schnell passiert, hat es das Bergungsfahrzeug wenigstens nicht so weit.
Foto: Stephan OrthSung aus Südkorea wohnt an einem sehr speziellen Ort: Im Nordosten Chinas betreibt er mit seiner Familie ein Restaurant, direkt am Jalu-Fluss, dessen gegenüberliegendes Ufer bereits zu Nordkorea gehört. Er kann von dort jeden Morgen die Propaganda-Lautsprecherdurchsagen hören, im Radio laufen Songs, die den großen Führer Kim Jong Un preisen. Dennoch dürfte er nicht ins 300 Meter entfernte Nachbarland rüberpaddeln, weil das für Südkoreaner verboten ist.
An einem Abend sprachen wir über Diktaturen und Demokratien. Er hielt die beiden Systeme für weniger unterschiedlich, als häufig angenommen wird. Ich stimmte ihm nicht zu: »Bei uns kann man demonstrieren und eine andere Partei wählen, wenn man einen Wandel will«, sagte ich. Er antwortete nur: »Klar, und dann wählt man jemanden wie Donald Trump, der nicht gut für das eigene Land ist. In Demokratien wird die öffentliche Meinung doch auch manipuliert.« Wir kamen zu keiner Einigung, aber er hatte da einen Punkt.
Foto: Stefen ChowHassan aus Abha in Saudi-Arabien traf ich auf einem Spielplatz, während der Pause einer Autofahrt im Gebirge. Nach etwa zwei Minuten Gespräch lud er mich für den nächsten Tag nach Hause ein. Er wohnt in einer Art Palast, mit Zierschwertern als Dekoration, edlen Teppichen und einer eindrucksvollen Sammlung von Fasanen und Ziervögeln.
Außerdem gehört seiner Familie eine jahrhundertealte Festungsruine auf einem Hügel, wo ich der erste ausländische Besucher war. Eine exklusive Erfahrung in einem Land, in dem viele Menschen sehr auf Privatsphäre bedacht sind. Ich nehme mir nach jeder Reise vor, auch in Deutschland mal einfach jemand Fremdes von der Straße weg zum Tee einzuladen. Nach Ende der Corona-Einschränkungen schaffe ich es bestimmt.
Foto: Christoph JordaDevi hat einen indonesischen Vater und eine deutsche Mutter und wuchs im sächsischen Freital auf. Früher war sie Sozialarbeiterin und Hausbesetzerin, heute ist sie Wanderführerin im konservativsten Teil Georgiens. In der Region Tuschetien gingen wir zusammen in die Berge, sie kennt dort jeden Stein. »Freunde haben mir geraten, Touren zu Weinverkostungen oder historischen Stätten anzubieten. Aber das ist mir zu langweilig«, sagte sie.
Tatsächlich kam keine Langeweile auf, während wir unterwegs waren. Nicht nur wegen der atemberaubenden Landschaft, sondern auch wegen unserem Fahrer, ihrem tuschetischen Ex-Mann und Geschäftspartner Vacho. Der kam nicht damit zurecht, dass sie der Boss ist, wenn es um ausländische Touristen geht, und fing ständig Streit an. Bis er zuletzt betrunken und schimpfend mit einem Stock in der Hand vor uns stand und erst nach viel gutem Zureden auf Nimmerwiedersehen verschwand.
Devi musste einen neuen Fahrer suchen. »Ist schon schön hier, aber manche Leute spinnen«, sagte sie. »Aber ich will trotzdem nirgendwo anders auf der Welt leben.«
Foto: Gulliver TheisIm indischen Rischikesch habe ich bei dem Couchsurfer Nipun gewohnt. Ein Suchender nach innerer Balance, der ständig von »Shanti Shanti« sprach, innerem Frieden. Und dabei ein so ansteckend heiteres Gemüt hatte, dass jeder in seiner Gegenwart ein bisschen Shanti abbekam.
Tagsüber machten wir Motorradtouren in die Berge, dann nahm er mich mit zu einer Osho-Meditation, abends saßen wir mit vielen anderen am Ganges und spielten Gitarre und sangen Lieder. »Wenn du aufhörst zu feiern und zu tanzen, verlierst du die Verbindung zum Leben«, sagte er.
Foto: Stephan OrthPawan aus Kathmandu arbeitet seit mehr als zwei Jahrzehnten als Wanderführer im Himalaja. Everest Basecamp Trek, Annapurna-Runde, Langtang – die Klassiker Nepals. Die meisten Menschen in seinem Metier sind gut darin, die Natur als besonders spektakulär und magisch anzupreisen, in der Hoffnung, dass diese Begeisterung auf die Touristen überschwappt.
Nicht so Pawan, der in einem Bergdorf aufgewachsen ist. Aus meiner Sicht hat er einen Traumjob in einer der schönsten Regionen der Welt, doch er sieht das Ganze eher nüchtern. »Was findet ihr nur an diesen Schneegipfeln? Es ist kalt im Zelt, und von der Höhe bekommt ihr Kopfschmerzen«, sagte er. Jederzeit würde er sein Leben gegen ein Beamtendasein in Hamburg oder München eintauschen. Ich fand seine Ehrlichkeit erfrischend.
Foto: Stephan OrthMay aus Macau war meine Couchsurfing-Gastgeberin, als ich dort einen Text über die Casinos schreiben wollte. Ich hoffte, von ihr ein paar gute Informationen zu bekommen, doch sie sagte nur, sie sei noch nie dort gewesen und verabscheue das Glücksspiel. »Die Casinos zerstören die Stadt. Die jungen Leute werden Croupier, anstatt zu studieren, weil sie damit mehr Geld verdienen. Außerdem kommen immer weniger Zugvögel, wegen der Lichtverschmutzung.«
Dann zeigte sie mir die Altstadt, einen wunderbaren Park und fotogene Ruinen alter Schiffswerften. Und erzählte mir die Geschichten dieser Orte. Ich musste zugeben: Im Vergleich dazu sind die Casinos tatsächlich nicht so interessant.
Foto: Stephan OrthDieser Tuk-Tuk-Fahrer im thailändischen Chiang Mai hatte viele Pläne mit mir, die allesamt von meinem Wunsch abwichen, zu einem anständigen Preis auf möglichst direktem Weg vom Wat-Doi-Suthep-Tempel zum Hostel zu gelangen. Zunächst lautete der Vorschlag »Massage? Ladies?«, dann wollte er mich zu einem Schneider, einem Schmuckladen und einem Souvenirshop (»Free town map!«) bringen. In der Hoffnung, dort eine Kommission zu kassieren, wenn ich unnützes Zeug kaufte.
Nachdem ich auch noch eine »very cheap« Tour zu den Topattraktionen der Stadt abgelehnt hatte, wollte er am Ziel plötzlich den doppelten Preis von dem, was wir anfangs ausgemacht hatten. Wir stritten minutenlang, schließlich drückte ich ihm den vereinbarten Bündel Banknoten in die Hand und lief unter seinen Flüchen davon.
Heute frage ich mich, was der Mann gerade macht. Vermutlich sind kaum Touristen da, vielleicht muss er wegen der Viruskrise viel zu Hause sein. Ich sitze ebenfalls zu Hause und denke das Undenkbare: Ich vermisse den Tuk-Tuk-Fahrer in Chiang Mai.
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