San Juan Islands Refugium der Nonnen und Lebenskünstler
Anacortes - Noch hüllt sich der rund 800 Meter hohe Mount Constitution in Nebel. Doch die Wanderer auf dem höchsten Berg von Orcas Island stört das nicht. Sie streben auf einen Turm aus großen grauen Felsquadern zu. Durch Schießscharten fällt fahles Licht, die Holzstiegen knarren beim Hinaufsteigen. Auf der kleinen Aussichtsplattform ist jeder Platz besetzt. In wenigen Minuten wird die Sonne aufgehen. Erst dringen nur wenige Strahlen durch den Dunst, doch dann zerreißt die Sonne den Wolkenvorhang und präsentiert ein 360-Grad-Panorama der Superlative.
In der Ferne im Norden sind Vancouver und Victoria Island in Kanada zu sehen, Mount Rainier und die Bergkette der Cascade Mountains im Osten. Im Süden zeigen sich die von Schnee bedeckten Gipfel des Olympic National Parks. Davor liegt ein Teppich aus Blau, übersät mit kleinen Inseln. Nur die vier Hauptinseln der über 700 Inseln der San Juan Islands werden von der Fährreederei Washington State Ferries angelaufen: Lopez, Shaw, Orcas und San Juan.
Um 12 Uhr erschüttert das Nebelhorn der "M/V Kennicott" die mittägliche Stille im Hafen von Anacortes auf der Fidalgo-Insel, der per Auto vom Festland zu erreichen ist. Schon bald nach dem Ablegen erscheinen die großen Trawler, die vor Alaska fischen, nur noch spielzeuggroß. Die weißen Holzhäuser der kleinen Hafenstadt wirken wie helle Punkte am Horizont. Nach 45 Minuten ist Shaw Island erreicht. Die kleinste der vier Hauptinseln ist katholisch geprägt: Seit 1976 fertigen Franziskanerinnen in braunen Kleidern und weißen Kopftüchern die Fähren ab und führen den einzigen Laden der Insel. Der "Little Portion General Store" ist der Treffpunkt der 200 Einwohner, zu denen neben den Franziskanerinnen auch die "Sisters of Mercy" und die Benediktinerinnen von "Our Lady of the Rock" gehören.
Biogemüse mit Blaukäse, Haselnüssen und Pinot-Noir-Vinaigrette
Orcas Island, die größte und hügeligste der Inseln, gleicht auf der Karte einem ausgefransten Hufeisen. Sanft gewellte Täler, Weiden und Wiesen prägen den Westen, die Wildnis des Moran State Park den Osten. Am Scheitelpunkt im Norden liegt Eastsound. Hier erzählt ein Museum in sechs verwitterten Blockhütten vom Leben auf der Insel in der Zeit, als Obstanbau und Forstwirtschaft den Alltag prägten.
Eastsound ist charmant übersichtlich. "Downtown" besteht aus zwei, drei Straßen, gesäumt mit hell gestrichenen Holzhäuser, die Läden und Lokale beherbergen: Thai, Meeresfrüchte, Mexikanisch und billige Burger. Da lohnt es sich, für den Abend im "Compass Room" des "Rosario Resorts" zu reservieren. Das kleine Restaurant mit dem großen Blick über die Cascade Bay hat sich erlesener Regionalküche verschrieben. Chefkoch Geddes Martin serviert zum Beispiel gedünstete Jakobsmuscheln mit gegrilltem Spargel und Limonendressing oder Biogemüse mit Blaukäse, Haselnüssen und Pinot-Noir-Vinaigrette. Jeden Sonntag lockt ein Champagner-Brunch im "Orcas-Room-Restaurant".
Beide Restaurants befinden sich im historischen Herrenhaus, das Robert Moran im Jahr 1909 für sich erbaute. Mit 46 Jahren psychisch und physisch am Ende, wollte der damals größte Schiffsbauer im Nordwesten der USA und zweifache Bürgermeister von Seattle seine letzten Lebensjahre inmitten unberührter Natur verbringen. Doch es kam anders: Entgegen der Vorhersagen seiner Ärzte gesundete Moran in der neuen Umgebung - und verkaufte sein großes Anwesen. 2000 Hektar davon erwarb der Staat Washington und schuf den Moran State Park.
Der Park bietet eine ursprüngliche Wildnis mit drei kleinen Seen, die sich auf 50 Kilometern Wanderwege entdecken lässt. Die Auswahl reicht vom vier Kilometer langen Rundgang um den Cascade Lake bis zum anstrengenden Aufstieg zum Mount Constitution mit dem Panoramablick: Auf acht Kilometern überwindet der Trail immerhin 700 Höhenmeter.
Delfine, Robben, Schwertwale und Schildkröten
Orcas Island lockt viele Lebenskünstler, und Leo Lambiel hortet ihre Werke - sein Haus am Eastsound beherbergt die größte Sammlung lokaler Künstler. Vor allem Töpfer haben sich auf der Insel niedergelassen. Bereits 1945 gründeten Joe und Marclay Sherman ihre Orcas Island Pottery, heute die älteste arbeitende Töpferwerkstatt im Nordwesten der USA. Der große Garten, phantasievoll mit Tieren und Tassen, Schalen und Schüsseln aus Ton dekoriert, endet an einem Steilufer. Tief unten blinkt blau das Meer zwischen den hohen Tannen.
Größter Konkurrent ist die 1959 gegründete Crow Valley Pottery & Gallery, heute Forum für mehr als 70 Künstler und Kunsthandwerker des Nordwestens. Auch hier ist der Garten eine erweiterte Galerie: Geflügelte fette Damen, Globen und andere verspielte Gartenkunstwerke drehen sich im Seewind. Obstgärten und Maisfelder säumen die Straße. Das Wahrzeichen des fruchtbaren Tals ist die "Red Apple Barn", eine leuchtend rote Scheune mit weiß abgesetzten Fenstern und Türen.
In Deer Harbor im äußersten Südwesten von Orcas liegen Seekajaks auf dem Kieselstrand. Vor jedem Törn üben die Touristen, wie das Paddel richtig geführt wird und wie die Eskimorolle funktioniert. Delfine, Robben, Seeotter und Schildkröten tummeln sich in den kalten Fluten, von Mai bis September haben Schwertwale hier ihre Heimat.
Die Inseln zählen zu den besten Orten weltweit, um die schwarz-weißen Orcas zu sichten. Auf San Juan Island wurde daher der erste offizielle "Whale Watching Park" der USA eröffnet. Jedes Jahr steigen bis zu 100.000 Besucher in die Ausflugsboote. Trockenen Fußes lassen sich die Giganten der Meere am besten im Lime Kiln Park im Westen von San Juan beobachten, wo sie in kleinen Gruppen vorbeiziehen. Interessantes über das Leben der Wale vermittelt das Walmuseum von Friday Harbor. Und Nachhilfe im Umgang mit den Tiere bietet das "Soundwatch Boater Education Program": Freizeitskipper können hier lernen, wie sie die Wale mit ihren Booten am wenigsten stören.
Von Hilke Maunder, gms