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Jeeptour in Saudi-Arabien Wüste(n) Ansichten

In der Wüste suchen Männer aus Saudi-Arabien die Freiheit, um einmal aus dem reglementierten Alltag auszubrechen. Auch sie ringen mit den strengen Gesetzen – in ihrem Frauenbild aber sind sie den Konventionen verhaftet.
Von Stephan Orth

Als es zu schneien beginnt, stoppen Turki, Abdollah und Abu Mansour ihre Geländewagen und springen auf den Asphalt. Gestandene Männer zwischen 50 und 72 tänzeln umher, recken Arme, preisen Allah und zücken Handys.

Das erinnert an die Wintereuphorie auf zugefrorenen Gewässern in deutschen Großstädten, nur ohne Frauen, mit anderer Männermode und mehr »Mashallah« und »Hamdulillah«. Dennoch wirkt das Wunder ungleich größer, denn das hier ist die Wüste, und wir sind in Saudi-Arabien. Der weiße Rausch muss sofort auf Snapchat mit der Welt geteilt werden.

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Nefud-Wüste in Saudi-Arabien: Die große Freiheit

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Saudi-Arabien – Schnee. Männer über 50 – Snapchat. Sie haben das richtig gelesen. Manche Reisen bringen vertraute Kategorien durcheinander. Besonders gilt das für eine Reise in ein Land, das vor Herbst 2019 für Touristen nicht zugänglich war. Nur Mekka-Pilger, ausländische Arbeitskräfte und persönliche Gäste des Königshauses durften bis dahin nach Saudi-Arabien.

Doch jetzt wünscht sich Kronprinz Mohammed bin Salman Vergnügungsreisende. Er lockt mit Plänen für Fünf-Sterne-Resorts und klimaneutralen Zukunftsstädten, mit Enrique-Iglesias-Konzerten und Formel-1-Rennen.

Nur eine Eigenheit, die immerhin 95 Prozent Saudi-Arabiens ausmacht, spielt im Marketingkonzept bislang kaum eine Rolle: die Wüste. Als Grund dafür vermutete ich zunächst das, was Prinz Faisal im Filmklassiker »Lawrence von Arabien« sagt: »Kein Araber liebt die Wüste. Wir lieben Wasser und grüne Bäume. In der Wüste ist nichts, und kein Mann braucht nichts.« Klingt einleuchtend, nur: Es stimmt nicht.

Von einem »Nichts« keine Rede

Turki, Abdollah und die anderen sind geradezu wüstensüchtig, davon kann ich mich auf einer sechstägigen gemeinsamen Offroad-Reise zwischen Al-Ula und Tabuk überzeugen. Wir übernachten in Zelten, kochen Kamelkabsa, philosophieren über das Leben und genießen die Landschaft.

Von einem »Nichts« kann keine Rede sein: Wir sehen schwammartige Felsformationen und pilzförmige Sandsteinskulpturen, die wirken wie von Riesenbibern angefressen. Die Gesetze der Schwerkraft scheinen für sie nicht zu gelten. Am zweiten Tag fahren wir durch eine Vulkanlandschaft aus schwarzem Lavagestein, wie man sie eher in Island als auf der Arabischen Halbinsel vermuten würde.

Dort endet nach einer halben Stunde Schneetreiben das Winterspektakel als Wassermatsch. »Es schneit fast jedes Jahr in Saudi-Arabien, für ein oder zwei Tage«, sagt Turki. »Aber normalerweise eher in den Bergen weiter westlich, nicht in so tiefen Lagen wie hier.«

Turki ist 52 Jahre alt und arbeitet als Arabischlehrer. Er hat auffallende Lachfalten um die Augen, einen Zehntagebart und riecht nach Nadelbaum. Weil er uns beide großzügig mit Parfüm eingesprüht hat, Duftnote »Aromatische Zeder«. Als Ersatz für die fehlende Dusche.

Wir kennen uns aus dem Internet. Nachdem ein freundlicher Gastgeber in Unaizah, nordwestlich der Hauptstadt Riad, einen Link zu meinem Instagram-Profil auf Snapchat an seine 100.000 Follower gepostet hatte, schrieb Turki mich an. Wir trafen uns, machten eine Tour zu den Steinmalereien von Jubbah, danach lud er mich zur Wüstenexpedition ein. So einfach geht das manchmal in diesem gastfreundlichen Land, in dem Besucher noch eine Novität sind.

Doch warum Snapchat? Die App, die bei uns Menschen über 25 allenfalls ironisch nutzen, hat im Königreich pro Kopf mehr Mitglieder als irgendwo sonst. Jeder zweite Saudi hat einen Account. Unter anderem deshalb, weil sich dort Inhalte von selbst löschen, wenn sie einmal angesehen wurden. Ein unschätzbarer Vorteil in einem Land, in dem die Meinungsfreiheit stark eingeschränkt ist. Videos, Fotos und Texte, so vergänglich wie Fußspuren im Sand.

Wir sind zu acht und reisen mit vier Autos. Während der Fahrt laufen ständig die Funkgeräte. Small Talk, Witze und spontane Gesangseinlagen von Abu Mansour. Politik ist kein Thema. »In der Wüste nur Heiteres«, sagt man hier. Der Text des Songs: »Ich traf eine Frau und sagte ›Salam Aleikum‹. Sie blieb stumm, doch ihre Augen gaben mir die Antwort.« Welch simple Worte, welch Sehnsucht, Liebe in Zeiten der Abaya, des schwarzen Überkleids. Die Realität sieht jedoch ein wenig anders aus: Alle meine Begleiter leben in Ehen, die von ihren Eltern für sie arrangiert wurden.

»Wüste bedeutet Freiheit«

»Würdet ihr eure Frauen auf eine Wüstentour mitnehmen, wenn es gesellschaftlich okay wäre?«, frage ich Turki. »Nein, das ist nichts für sie. Keine sanitären Anlagen, lange Autofahrten«, antwortet er. »Ich gebe dir einen Tipp: Heirate nicht«, fügt er nach einer kurzen Pause hinzu. »Am Anfang ist alles toll, aber dann wollen sie dich nur noch kontrollieren, werden zu Diktatorinnen. Und sie nehmen schnell zu, weil sie sich nicht bewegen.«

Er wird unterbrochen von Abu Mansour und seinem Liebeslied. Turki sagte tatsächlich »Diktatorinnen«. Dabei sind dominante Frauen in der konservativen Auslegung des wahhabitischen Islam nicht vorgesehen. Die Männer sollen Gott dienen, und die Frauen den Männern, so hört man es häufig, wenn man männliche Saudis nach der korrekten Rollenverteilung fragt.

In der Öffentlichkeit folgt man der Norm, doch im Privaten scheint das Machtgefälle manchmal anders zu verlaufen. Ich spüre, dass Turki ein sanfter Mensch ist, alles andere als streitlustig. Hätte er selbst diktatorische Ambitionen, fände er in diesem System möglicherweise leichter seinen Platz. Eine patriarchalische Gesellschaft bedeutet eben nicht automatisch mehr Lebensglück für die Privilegierten.

Mir fällt auf, wie Turki es im Gespräch vermeidet, »meine Frau« zu sagen oder ihren Namen zu nennen. Das macht man nicht, das ist zu privat. So privat, dass die meisten Saudi-Männer ihre Partnerin unter einem Spitznamen im Handy speichern. Ich habe Bezeichnungen wie »Mutter von Ahmed«, »Blume meines Lebens« oder »die Regierung« gelesen, aber nie den tatsächlichen Vornamen.

Turki genießt seine Fluchten. Fast jedes Wochenende reist er in die Wüste. Er braucht diese Auszeit vom Korsett häuslicher Verpflichtungen. »Wüste bedeutet Freiheit. Vom Alltag, vom normalen Leben«, sagt er. »Ich glaube, Gott hat mich in der Wüste geschaffen.«

Meine Saudi-Arabien-Reise dauert insgesamt neun Wochen, doch nirgends erlebe ich so ausgelassene Menschen wie beim Abendessen am Brikettfeuer oder beim Gasgeben auf steilen Dünen. Morgens sind dennoch alle diszipliniert: Keiner lässt das gemeinsame Fadschr-Gebet um kurz vor sechs aus.

Götter am Wegesrand

Am Seitenfenster von Turkis Land Cruiser spaziert eine Gruppe Kamele vorbei. Ich bitte ihn anzuhalten, damit ich fotografieren kann. Das mache ich jedes Mal, wenn wir Kamele sehen. Auf meine Begleiter muss ich wirken wie ein Schleswig-Holstein-Besucher, der bei jeder Schafherde in Schnappatmung verfällt.

Turki interessiert sich mehr für antike Steinmalereien. Wir entdecken 6000 Jahre alte Darstellungen von Rindern und Göttern, einfach so, am Wegesrand. Ohne jede Markierung, abgesehen von einem Müllhaufen daneben als Hinweis, dass hier schon mal jemand sein Camp aufgeschlagen hat.

Schon wieder geraten meine Kategorien durcheinander: Die Freude darüber, eine antike Sensation in größter Abgeschiedenheit zu entdecken, wird getrübt vom Anblick leerer Plastikflaschen, zerknüllter Kekspackungen und einer rostigen Felge. Entdeckungsreisen im 21. Jahrhundert.

Kurz vor Tabuk, nach sechs Tagen unterwegs, ruft Turki zum ersten Mal seine Frau an. Er will von der abenteuerlichen Tour erzählen, doch er wird unterbrochen. »Komm nach Hause. Ich weiß schon alles von Snapchat«, sagt sie.

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