Schiffstour zum Kap Hoorn Zwei Zeiten, ein Ziel

Schwere Stürme, verschimmeltes Essen und ein lebensgefährlicher Job: Als Hans Peter Jürgens 1939 als Schiffsjunge zum Kap Hoorn segelte, erlebte er fast drei Wochen lang schlimme Strapazen. Jetzt kehrte er dorthin zurück - auf einem Luxus-Kreuzfahrtschiff.
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Kap Hoorn: Zwischen Himmel und Hölle

Foto: Jörg Klaus / www.ankerherz.de

Die Vorhersage meldet ruhiges Wetter für Kap Hoorn, was Wind der Stärke sechs bis sieben meint. Der alte Kapitän überlegt, ob er morgen früh im Bett liegen bleibt. Er beobachtet durch das Fenster seiner Kabine, wie sich die "MS Deutschland" durch den Beagle-Kanal schiebt, entlang der Berge in "Tierra del Fuego", dem Land des Feuers. Immer weiter in Richtung des Sturmkaps, das sein Leben prägte.

Hans Peter Jürgens ist dahin zurückgekehrt, wo seine Seemannslaufbahn begann: 1939 war er Schiffsjunge an Bord der "Priwall", auf dem letzten Segelschiff, das die berüchtigte Passage um Kap Hoorn mit Ladung überstand. 70 Jahre und sechs Monate später wird er wieder an den Felsen vorbeikommen, doch Jürgens scheint die Sichtung, laut Zeitplan in den frühen Morgenstunden zu erwarten, nicht zu passen.

"In meinem Alter ist Nachtruhe wichtig", sagt Jürgens, der 85-Jährige brummt noch etwas von "ausgiebigem Abendessen" und "kräftigem Schluck Rotwein", der Rest ist kaum zu verstehen. Er lächelt dabei, lächelt sein Kapitänslächeln, ein listiges Blinzeln unter den buschigen, weißen Augenbrauen. Was in ihm vorgeht? Und worüber er nachdenkt? Jürgens, ein zurückhaltender, ein leiser und verschlossener Seemann, behält es für sich. Er sagt, er wolle über sein Leben nachdenken während der Zeit auf See.

Schwere Teppiche und poliertes Messing

Seit acht Tagen ist das Kreuzfahrtschiff nun unterwegs auf einem südlichen Kurs, seit Valparaiso, einer chilenischen Hafenstadt. Die "MS Deutschland" ist das "Traumschiff" aus dem ZDF-Abendprogramm: weiß gestrichene Eleganz, Kategorie Superior, eine Art schwimmender Clubsessel. Gemütlich und auch altmodisch, mit Ölschinken auf den Gängen und in manchen Kabinen und einem erkennbaren Faible für schwere Teppiche und poliertes Messing. Eine Bar auf Deck sieben heißt "Alter Fritz", und neben Bier aus Duisburg stehen in einer Vitrine rund um die Uhr Buletten bereit.

Der ewige TV-Steward Sascha Hehn hat hier niemals serviert, und doch ist überall an Bord ein Geist der frühen Neunziger zu spüren. Nur etwas mehr als die Hälfte der Kabinen ist auf dieser Reise mit dem Namen "Abenteuer Antarktis" belegt, weil Luxus teuer ist und noch teurer in Zeiten der Krise. "Es ist ein schönes Schiff, das noch aussieht wie ein Schiff, und nicht wie eine Vergnügungsfabrik auf dem Wasser", findet Jürgens, der einst Lokomotiven nach Indien transportierte oder Holz aus Finnland abholte. Nie wäre es ihm vor der Einladung der Reederei in den Sinn gekommen, eine Kreuzfahrt zu unternehmen, also zum Spaß auf See zu gehen.

Wenn er Vergleiche anstellen soll, wie es damals war an Bord der Viermastbark und heute auf dem Fünfsternedampfer ist, sagt Jürgens: "Ein Unterschied zwischen Himmel und Hölle." Die Hölle, 1939: schwere Stürme, Kälte, keine Heizung an Bord, Kojen mit dünnen Auflagen aus Stroh, durchnässte Kleidung, tiefe Müdigkeit, harte Arbeit unter Lebensgefahr hoch oben in den Rahen, wo die Schiffsjungen die Segel bargen. Die Finger waren vor Anstrengung aufgeplatzt, und das Ölzeug hatte den Nacken blutig gescheuert. Ein mieser Dauerproviant aus Hülsenfrüchten, angeschimmeltem Zwieback und stinkendem Salzfleisch setzte den Seeleuten zu. Damit niemand von einer überkommenden See mitgerissen wurde, waren "Leichennetze" als letzte Sicherheit gespannt.

Fasanenbrust statt Gammelzwieback

Auf den Decks der "Deutschland" sind Liegen aus Edelholz aufgeklappt, die Kellner sind aufmerksam, bringen Kaffee mit Gebäck, und selbst wenn der Wind zunimmt, ist vom Wellengang kaum etwas zu spüren, weil die "Deutschland" ihre Ballasttanks befüllen kann und Stabilisatoren das Schiff ruhig halten. Im Restaurant "Vier Jahreszeiten" sind abends Anzug und Krawatte unbedingt erwünscht, und im "Lido-Gourmet", wo Jürgens gerne speist, serviert man "Gebratene Fasanenbrust nach Art der Winzerin."

Nicht immer, das kann spüren, wer Jürgens kennt, fühlt sich der Seemann wohl in der Welt des Champagner-Sauerkrauts. Er genießt die Aufmerksamkeit, gewiss, er schmunzelt auch über seine Rolle als wandelnde Sehenswürdigkeit. "Ich bin an Bord der rote Hund", sagt er, weil er kaum einen Meter über Deck schlendern kann, ohne angesprochen zu werden: "Herr Kapitän, nur ein schnelles Foto, bitte". Oft sind es Frauen, die fragen, und es gibt rührende Momente, wenn einer alten Dame vor Aufregung die Kamera zittert.

Wenn ihm der Trubel um seine Person zu viel wird, bewegt er sich langsam und in kleinen Schritten fort. Immer wieder muss er erzählen, wie es damals war, von den Qualen und Entbehrungen, die es erforderte, Kap Hoorn zu bezwingen, vor allem im Winter. An 300 Tagen im Jahr toben Stürme, wo Pazifik und Atlantik aufeinander treffen, und die Wucht der westlichen Luftströmungen türmt die Seen zu gewaltigen Höhen auf, wie sie nirgendwo sonst in solcher Regelmäßigkeit beobachtet werden können. Wellenwände von knapp 20 Metern Höhe sind nichts Außergewöhnliches, und für Segelschiffe waren Eisberge eine tückische Gefahr.

"Gott hat Kap Hoorn im Zorn erschaffen", dieser Satz stammte von Adolf Hauth, dem Kapitän der "Priwall", als Jürgens an Bord war. Kein anderes Seegebiet wird von Seeleuten so gefürchtet: Mehr als 800 Schiffe sanken in Sturm, kollidierten mit Eisbergen oder zerschellten an den Klippen, mehr als 10.000 Männer ertranken.

19 Tage im Inferno

Die "Priwall" benötigte im Südwinter 1939 fast drei Wochen, um gegen die Stürme vor dem Kap zu kreuzen, durch ein anthrazitgraues Inferno. 19 Tage, in denen die Erschöpfung der Jungen ein Maß erreichte, dass der Instinkt, überleben zu wollen, die Kontrolle über den Körper übernahm. Über Bord zu gehen bedeutete für die Matrosen, die in der Takelage froren, den sicheren Tod, weil es dem Kapitän unmöglich war, das Schiff im Orkan zu wenden.

"Angst hatte ich nicht", erzählt Jürgens, "das war seltsam. Ich dachte nur an den Augenblick, daran, wie es in der nächsten Minute weiterging." Wegen des Sturms hatte die "Priwall" das Kap in einem weiten Sicherheitsabstand passiert.

Die "Deutschland" dagegen, ausgerüstet mit modernster Satellitentechnologie und starken Dieselmotoren, wird mit einer Distanz von wenigen Seemeilen daran vorbeifahren. Am nächsten Morgen, die Sonne ist gerade aufgegangen, zeigt sich, dass die Vorhersagen der Meteorologen stimmen: Der Wind weht mit Stärke sechs und treibt Wolken über einen Himmel, der aussieht, als habe jemand nachkoloriert.

Blau und Grau und Violett und Schwarz vermischen sich, in einigen Momenten kommt die Sonne durch und taucht die See in Gold, vor der schroffen Kulisse der Felseninsel Isla Hornos und den Bergen des Feuerlandarchipels, einer Zackenlinie am Horizont.

Kapitän Jürgens steht auf dem Brückendeck und betrachtet versonnen das Schauspiel. Er trägt eine verschlissene Kappe, die ein Albatros ziert, Wappenvogel der Bruderschaft der "Kap Hoorniers"; er war Präsident der deutschen Sektion, als sie sich auflöste, weil nur noch wenige Mitglieder leben. Jürgens ist nicht in seiner Kabine geblieben, selbstverständlich ist er das nicht, sondern war der Erste, den die Offiziere der "Deutschland" an diesem Morgen begrüßten. Die Stimmung pendelt zwischen Euphorie und Andacht, je näher das Schiff 55° 59' südlicher Breite und 67° 16' westlicher Länge entgegenstampft, dem mythischen Ort.

Dann kommt Kap Hoorn in Sicht.

Lesen Sie am Donnerstag die Fortsetzung im zweiten Teil auf SPIEGEL ONLINE.

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