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Fürstentum Seborga: Die Prinzenrolle

Foto: Oliver Lück

Seborga in Ligurien Ein Prinz, 300 Untertanen

Mit eigener Währung, eigenem Pass und eigener Hymne: In den Bergen hinter San Remo liegt das fast tausend Jahre alte Fürstentum Seborga. Wir gehören nicht zu Italien, behaupten seine Bewohner - und wählen ihren Prinzen auf Zeit einfach selber.
Von Oliver Lück

Jean-Philippe Arnotte ist ein Mann, den man nur schwer übersehen kann. Er trägt einen gepflegten kaiserlichen Backenbart - weiße, geschwungene Koteletten, die über der Oberlippe in einem Schnauzer münden. Dazu ein weißes Hemd mit blauen Streifen, eine rot-weiß-gold gestreifte Krawatte, eine schwarze Hose und strahlend weiße Turnschuhe.

Er hat einen beachtlichen Bauch und bewegt sich immer leicht tänzelnd durch die Welt. Ein bisschen sieht er aus wie Hercule Poirot, der Meisterdetektiv aus den Romanen von Agatha Christie. "Ich habe Beweise", hatte Jean-Philippe am Telefon gesagt und wichtige Dokumente angekündigt.

Jetzt sitzt der 56-Jährige in einem Restaurant in Seborga, einem Bergdorf mit 300 Bewohnern im italienischen Nordwesten. Er ist gekommen, um der Inthronisierung des neuen Prinzen beizuwohnen. Marcello der Erste soll in einer feierlichen Zeremonie in den Fürstenstand erhoben werden. Die Kellnerin bringt erst mal einen riesigen Salatteller und Medaillons vom Kaninchen. Und Jean-Philippe beginnt zu essen und schiebt seinen Pass über den Tisch.

Das Stück Papier ist für ihn so etwas wie die amtliche Beglaubigung, dass die Geschichte wahr ist, die er gleich erzählen wird. "Ich bin Luxemburger", sagt er schmatzend, "kein Franzose." Wegen seines Akzents werde er häufiger für einen Franzosen gehalten. Der Pass aber ist keiner aus dem Großherzogtum Luxemburg, er zeigt dafür ein Wappen mit weißem Kreuz auf blauem Grund, darüber die Krone des Heiligen Römischen Reiches. Auf dem Ausweis steht: Passaporto Principato di Seborga.

Goldenes Wappen auf dem Asphalt

Seborga liegt in der Provinz Ligurien am Schaft des italienischen Stiefels. Es gibt nur eine Straße in das versteckte Dorf im Hinterland der Riviera dei Fiori, der Blumenküste, die schöner klingt, als sie ist. Dort blüht kaum noch etwas, was nicht gewollt ist, meist Zierblumen in Gewächshäusern für die europäischen Großmärkte. Lärmig und prospektgepriesen ist die verbaute Gegend um San Remo. In Seborga geht es noch beschaulicher zu.

Einige Kilometer führen schmale Serpentinen durch mit Pinien, Eukalyptus und Ginsterbüschen bewachsene Hänge hinauf auf rund 500 Meter. Jeder Olivenhain, jeder Rebstock gilt hier als kleiner Sieg über den steinigen Grund. Bei guter Sicht kann man bis nach Korsika gucken, bei schlechter ist immerhin noch Monaco mit seinen Hochhausblöcken und Betonfassaden zu sehen, wo die Küste längst Côte d'Azur heißt.

Wie eine Festung thront Seborga über dem Meer. Die Häuser drängen sich dicht an dicht, als hätte sie jemand auf die felsige Kuppe geklebt. Das Dorf soll über tausend Jahre alt und seit jeher schwer zu erobern gewesen sein. Ansatzweise ist das heute noch so: Denn wer die verwitterten Steinhäuser und das Labyrinth der mittelalterlichen Gassen erreichen will, muss zunächst die seborgische Grenze passieren. Das Wappen mit der goldenen Krone ist dort auf den Asphalt gemalt.

Daneben steht ein winziges Wachhäuschen, weiß gestrichen und mit blauem Dach. Darin hockt ein uniformierter Grenzposten. Er sieht gelangweilt aus. Er gähnt. Er sagt: "Ich habe Hunger, es ist heiß." Viele Autofahrer sind irritiert, sie wissen nicht, ob sie ohne Kontrolle weiterfahren dürfen und stoppen vor dem Wachmann, der einen Säbel und ein blaues Barett trägt. Er winkt sie durch. Wenige Meter weiter begrüßt ein Schild die Besucher in vier Sprachen: "Willkommen in Seborga, dem antiken Fürstentum".

"Wir haben nie zu Italien gehört"

Angesprochen auf die Beweise, die er angekündigt hatte, legt Jean-Philippe verschwörerisch eine Hand an den Mund. Er flüstert: "Wissen Sie was: Seborga ist einfach vergessen worden." Nun hält er einen Monolog. Er jongliert mit historischen Daten, spricht vom Jahr 954, als der Graf von Ventimiglia das Dorf an Benediktinermönche verschenkte. 1079, als das Gebiet zum Fürstentum des Römischen Reiches erklärt wurde und schon bald ein souveräner Staat entstand. Und dann, 1729, als Mönche das Land an den Herzog von Savoyen verkauften.

"Und nun wird es interessant", ruft er: "Der Kaufvertrag wurde nirgendwo registriert, er war also nie gültig!" Er grinst, als ob man sofort verstehen müsse, was das bedeute. Im nächsten Augenblick ist er schon weiter im Jahr 1815 beim Wiener Kongress, als Seborga sich nicht dem Königreich Sardinien anschloss, dann 1861, als man auch Italien nicht beitrat. Und als 1946 die Italienische Republik verkündet wurde, fehlte Seborga noch immer in den Dokumenten - bis heute. Jean-Philippe sagt: "Wir haben nie zu Italien gehört."

Nicht er will all das herausgefunden haben, sondern ein gewisser Giorgio Carbone, ein bärtiger Blumenzüchter aus dem Dorf. Der hatte sich in den frühen Sechzigern bereits mit den geschichtlichen Wurzeln seines Heimatortes beschäftigt. Sein Ergebnis: Das Fürstentum lebt. Das Einzige, was fehlte, war ein Fürst. Mit großer Mehrheit wählten die Einwohner Giorgio den Ersten zu ihrem Prinzen auf Lebenszeit.

Italien aber will diese Unabhängigkeit nicht anerkennen - viel schlimmer noch: In Rom nimmt man den angeblichen Fürstenstaat gar nicht ernst. Man schweigt. Und die Seborghini kämpfen unbeirrt weiter, nicht für eine Abspaltung, sondern einzig für eine Anerkennung ihrer Souveränität. "Jeder hat einen italienischen Pass und möchte diesen behalten", erklärt Jean-Philippe, "auch die Steuern werden weiter an Italien gezahlt."

Eigene Währung Luigino

Giorgio der Erste starb im November 2009. 46 Jahre hatte er regiert. "Mit seinem Tod ist dieses Kapitel beendet", dachte der offizielle, italienische Bürgermeister damals. Viele Entscheidungen hatte er gemeinsam mit dem sturen und knurrigen Monarchen treffen müssen. Nach dessen Tod glaubte er sich alleine an der Macht. Doch so einfach war das nicht: Die Bürger wollten einen neuen Fürsten wählen.

Marcello Menegatto, wie er mit bürgerlichem Namen heißt, sitzt in einer stillen Ecke der Taverna. Ursprünglich stammt er aus Lugano, lebt seit einigen Jahren in Monaco und in Seborga, wo ihm fünf Häuser gehören. Der Sohn eines Schweizer Bauunternehmers ist ein großer Mann, sicher 1,90 Meter. Er hat kurze Locken und Pausbacken. Es wölbt sich ein zufriedener Bauch unter seinem Polohemd.

Einige Wochen zuvor hatte man ihn für sieben Jahre gewählt. Nun erzählt er von seinen Plänen, ein Fünf-Sterne-Hotel zu bauen. Einen Golfplatz und Arbeitsplätze hat er auch versprochen. Marcello verbringt viel Zeit in Monte Carlo, dort macht man das so. Er sagt: "Das ist meine Vorstellung von einem modernen Fürstentum."

Der junge Schweizer ist so etwas wie eine neue Hoffnung. Gerade hat der Kindergarten schließen müssen, auch die Grundschule hat nur noch wenig Nachwuchs. Das uralte Dorf veraltet. Auch Touristen waren mal mehr da. Knapp zehntausend Besucher kommen jedes Jahr den Weg hinauf, da sie von dem seltsamen Fürstenstaat gehört haben.

Es werden allerhand Souvenirs verkauft. Es werden Pässe ausgestellt, mit denen man nirgendwohin reisen kann. Es wird eine eigene Währung - der Luigino - gewechselt, mit der man nirgendwo bezahlen kann. Und es gibt Briefmarken, die man auf keine Postkarte klebt, da diese nie ankommen würde. Fingerhüte, Feuerzeuge, Führerscheine - schnell fragt man sich, ob das Fürstentum vielleicht doch nicht mehr als eine gut inszenierte Folklore ist.

Der Prinz muss viele Hände schütteln

Am nächsten Tag verwandelt sich der Ort für wenige Stunden in eine Art monegassische Miniaturausgabe. Knapp dreihundert Gäste sind gekommen. Männer in Nadelstreifenanzügen mit Sonnenbrillen. Frauen in Designerkleidern mit storchenhaftem Gang. Fernsehteams, ehrenamtliche Konsule. Die Säbel der Gardisten blitzen in der Sonne. Eine Parkwächterin verteilt weiß-blaue Fähnchen. Ein langer roter Teppich ist ausgerollt.

Und nun wird Marcello in einer kurzen Zeremonie mit einem Schwert zum Principe geschlagen. Aus Lautsprechern knarzt die seborgische Hymne. "Viva Marcello!" Applaus. Der Prinz muss viele Hände schütteln. Auf der großen Piazza, die sonst ein Parkplatz ist, stehen gedeckte Tische. Eine kleine Bühne ist aufgebaut, wo ein schwarzbärtiger Mann, der wie Luciano Pavarotti aussieht, aber viel kleiner als der verstorbene Startenor ist, klassische Oper singt.

Stunden später, etwas oberhalb auf einem schmalen Bergrücken - von hier hat man einen schönen Überblick: Auf der kurvigen Straße sind bereits die ersten Autos unterwegs hinunter zur Küste, gleich werden sie die Grenze mit dem Häuschen passieren, wo der Wachmann längst nachhause gegangen ist.

Von Seborga kann man über drei Grenzen gucken, sagen die Seborghini - nach Italien, nach Frankreich und nach Monaco. Vielleicht sind es auch bloß zwei, das ist Ansichtssache. Nur eines ist gewiss: Die Grenze zwischen Theater und Realität wird in Seborga noch lange verschwommen bleiben.

Dies ist die gekürzte Fassung eines Kapitels von "Neues vom Nachbarn - 26 Länder, 26 Menschen" von Oliver Lück, vor kurzem erschienen im Rowohlt Taschenbuch Verlag .

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