
Slum-Tour in Mumbai: Gucken, nicht gaffen
Slum-Tour in Mumbai Kommen, um zu verstehen
"Passt auf die Leitungen auf", warnt Balaji. "Die hängen manchmal recht niedrig." Dann betreten wir den düsteren, kaum schulterbreiten Gang. Links und rechts fällt der Blick in winzige Räume, nicht größer als zehn Quadratmeter.
Frauen sitzen auf dem Boden und schneiden Gemüse, zwischen ihnen krabbeln Babys. Neben Gaskochern stehen sorgfältig gestapelte Metalltöpfe. Zweieinhalb Stunden führt Balaji die fünfköpfige Gruppe aus Kanada, Singapur und Deutschland durch Dharavi, den wohl größten Slum Asiens.
Eingepfercht zwischen zwei Bahnlinien lebt hier rund eine Million Menschen auf einer Fläche von knapp zwei Quadratkilometern. Die Mehrheit der Bewohner sind Hindus, ein Drittel Muslime und sechs Prozent Christen. Dharavi zählt zu den am dichtesten besiedelten Flächen der Erde.
Knapp 60 Prozent der 22 Millionen Einwohner Mumbais leben in einem Slum, Dharavi gilt dabei als eine Art Vorzeigegebiet: Es gibt Schulen und Krankenhäuser, Moscheen, Tempel und Kirchen und sogar ein Kino.
Balaji, 25 Jahre alt, ist hier aufgewachsen und lebt noch immer mit seiner Frau und seinem kleinen Sohn hier. "Viele Bewohner haben einen Bürojob, wohnen aber weiter in Dharavi, weil sie die gute Nachbarschaft schätzen", sagt er. Eigentlich arbeitet Balaji als Blumenbinder. Doch nebenbei führt er für den Touranbieter Reality Tours & Travel Touristen durch Dharavi.
Regeln für die Gäste: Keine Fotos, angemessene Kleidung
Auf der Internationalen Tourismus-Börse Berlin (ITB) im März wurde das Unternehmen im Wettbewerb sozialverträglicher Tourismus mit dem Preis "TO DO! 2014" ausgezeichnet. "Reality Tours hat Routen ausgearbeitet, die für den Gast hochinformativ sind", heißt es in der Begründung. "Die Bewohner fühlen sich und ihr Dharavi durch die Gäste aufgewertet."
Seit 2005 bietet das von dem Briten Chris Way und dem Inder Krishna Pujari gegründete Unternehmen Rundgänge an. Bevor die ersten Touristen durch das Viertel geführt wurden, diskutierten Way und Pujari lange mit den Einwohnern und erarbeiteten gemeinsam ein paar Regeln: Touristen müssen angemessen gekleidet sein, und es herrscht striktes Fotoverbot. Touristen sollen auf ihren Rundgängen mit den Bewohnern interagieren, und sie nicht mit der Kamera bedrängen.
Und: Die Bewohner sollen direkt vom Tourismus profitieren. 80 Prozent der Gewinne von Reality Tours & Travel und seiner Wohlfahrtsorganisation Reality Gives fließen zurück in den Slum. Angeboten werden Gesundheitsprogramme, Englisch- und Computerkurse, Bildungsprogramme sowie Sportmöglichkeiten. 15 Guides arbeiten fest oder in Teilzeit für das Unternehmen, von April 2013 bis März 2014 nahmen 15.000 Besucher aus aller Welt an den Rundgängen teil. Auch deutsche Reiseveranstalter wie Studiosus Reisen haben die Touren im Programm.
Ein reales Bild der Lebensumstände
Allerdings: Slum-Tourismus ist umstritten. "Es gibt sehr starke moralische Zweifel", sagt Malte Steinbrink vom Institut für Geografie an der Universität Osnabrück. Kritisch sieht er vor allem, wenn die Touren als Kulturtrips verkauft werden, auf denen Reisende das echte Leben kennenlernen sollen. "Das ist eine Entpolitisierung von Armut", sagt Steinbrink. "Der Slum ist dann nicht mehr Ausdruck globaler Ungerechtigkeit, sondern wird als authentisches Lokalkolorit verkauft."
Reality Tours will Touristen ein reales Bild der Lebensumstände vermitteln. "Wir wollen zeigen, wie die Menschen leben und was sie auf die Beine gestellt haben", erklärt Operations Manager Asim Abid Shaikh. "Ja, es gibt Armut, es gibt aber auch einen starken Gemeinschaftssinn."
Auf den Touren werden schockierende Seiten wie die katastrophalen hygienischen Zustände nicht ausgespart. Toiletten sind in Dharavi Mangelware. Als Balaji die Gruppe an einem Müllberg vorbeiführt, auf dem ein Kind seine Notdurft verrichtet, verschlägt es manchem den Atem.
Seriöse Touren vs. Armutspornografie
Antje Monshausen, Leiterin der Arbeitsstelle Tourism Watch , sieht die Gefahr, dass mit der wachsenden Popularität von seriösen Slum-Touren auch immer mehr Massenveranstalter in die Viertel der Ärmsten einfallen. Es brauche daher einen Schutz der Bewohner.
Auch Reality Tours ist sich dessen bewusst. Immer wieder lässt das Unternehmen von Studenten untersuchen, wie der Tourismus auf die Slumbewohner wirkt. Eine Bachelor-Arbeit im vergangenen Jahr zeigte, dass mehr als 90 Prozent der Befragten Touristenbesuch als positiv und nicht als störend empfinden.
Balaji führt die Gruppe zum Eine-Million-Rupien-Haus (14.400 Euro), das Reality Tours angemietet hat, um Touristen einen Eindruck der Wohnverhältnisse zu geben. Eine Million Rupien kostet der etwa dreimal dreieinhalb Meter große Raum, mit einer Kochnische und ein paar Ablagefächern an der Wand. Knapp die Hälfte der Familien in Dharavi lebt auf weniger als zehn Quadratmetern.
Ein Slum in bester Innenstadtlage
Wenn Balaji über seine Heimat spricht, schwingt viel Stolz mit. "Wussten Sie, dass wir hier mehr als 665 Millionen Dollar im Jahr erwirtschaften?", fragt er die Besucher. Es gibt mehr als 15.000 Kleinbetriebe und Werkstätten: Töpfereien, Lederverarbeitung und Schneidereien. In Kellerräumen werden jedes Jahr Tonnen von Keksen gebacken, auf den Höfen trocknen Papadams, hauchdünne, knusprige Fladen aus Linsenmehl, die an Restaurants geliefert werden. Die meisten Produkte aus Dharavi werden auf dem heimischen Markt verkauft, aber auch europäische Designer lassen hier nähen.
Das Hauptgeschäft jedoch ist Recyling. Unter gefährlichen und gesundheitsschädlichen Bedingungen reinigen die Einheimischen gebrauchte Farbeimer, beulen Stoßstangen aus, sortieren und zerkleinern Plastikteile, die geschmolzen und später als Granulat verkauft werden. "Arbeit gibt es genug", sagt Balaji. Über hundert Tonnen Müll werden in Mumbai täglich produziert, 80 Prozent davon landen bei den Wiederverwertern von Dharavi.
Doch die Zukunft des Slums ist gefährdet: Das Grundstück in bester Innenstadtlage ist heiß begehrt in der boomenden Wirtschaftsmetropole, deren Immobilienpreise längst zu den höchsten weltweit gehören. Bereits 2004 wurde ein Restrukturierungsplan entwickelt, der 2011 wieder begraben wurde. Derzeit gibt es einen neuen Anlauf. Vor Kurzem schrieb eine indische Zeitung treffend: Dharavi liegt längst auf einer Goldmine.