Südindien Die lange Nacht der Umarmungen
Mata Amritanandamayi Devi ist 50 Jahre alt, unverheiratet und kinderlos. In den vergangenen 30 Jahren hat sie angeblich nicht weniger als 21 Millionen Menschen liebevoll an ihre Brust gedrückt und Wangenküsschen verteilt, behaupten ihre Anhänger. Für eine indische Frau normalerweise undenkbar, schon gar nicht vor Abertausenden von Zeugen.
Doch bei ihr ist das in Ordnung. Wie schon der Beiname "Devi" (Göttin) andeutet, ist sie eine von Indiens sehr rar gesäten weiblichen Gurus und wohl die weltweit Bekannteste. Ihre Jünger nennen sie Amma oder wegen ihres extensiven Austeilens von Zärtlichkeiten "The Hugging Mother", etwa: die Mutter, die umarmt. Auch das ist ungewöhnlich, weil in Indien ein Guru normalerweise von der Ferne bestaunt und angebetet, niemals aber berührt wird.
Der Hauptsitz des mittlerweile weltweit organisierten Amma-Imperiums liegt im südindischen Bundesstaat Kerala, nahe der Stadt Kollam. Umrahmt vom Arabischen Ozean auf der einen Seite und von Keralas berühmten Backwater-Lagunen auf der anderen, ragen zwei ferkelrosa Hochhäuser aus einem dichten Wald von Kokospalmen. Hier wurde Amma geboren, im Fischerdorf Amritapuri, was inzwischen schon lange kein Fischerdorf mehr ist, sondern Anlaufstelle für Horden von Leuten, die nach spiritueller Erleuchtung dürsten.
Nummern ziehen für eine kurze Umarmung
Ausgemergelte Menschen in weißen Flattergewändern prägen das Bild im Ashram, einer Art Kloster. Stille gilt als eine der wichtigsten Verhaltensregeln. "Zu schweigen oder wenig und leise zu sprechen wird sehr empfohlen, um Verinnerlichung wahren zu können", heißt es in den Verhaltensregeln. Rauchen und Alkohol sind hier ebenso verboten wie nackte Beine und Schultern. Darüber hinaus leben die Ashram-Bewohner im strikten Zölibat, und das gilt auch für Kurzzeitbesucher.
Um 10.30 Uhr dängt eine wogende Menschenmasse in die 30.000 Quadratmeter große Halle neben Ammas rosa Tempel. Alle warten auf das, wofür sie - teils in stundenlanger Anreise - hierher gekommen sind: einmal von der großen Mutter gedrückt werden, Sorgen und Probleme mit ihr teilen, ein so genanntes Darshan bekommen.
Tausende von drängelnden Menschen wollen organisiert werden. Deshalb gibt es Ausgabestellen für Tokens, kleine Zettelchen, die einem den Platz in der Schlange sichern. Nummern ziehen für eine kleine, erlösende Umarmung. Und dann wieder warten, zwei, vielleicht drei Stunden - das kommt darauf an, wie gut man seinen Platz in der Token-Schlange verteidigen kann. In Indien wird nicht lange gefackelt, es gilt das Motto "Weggegangen, Platz gefangen".
Massenabfertigung im spirituellen Mantel
Die Wartezeit wird versüßt mit spiritueller Musik, den Klängen von Harmonium, Tabla und Sitar. Rundherum sitzen arme, reiche, alte, junge, dicke und dünne Menschen aller Herren Länder im Schneidersitz auf dem Boden; viele wippen sich mit geschlossenen Augen in Trance. Vorne, auf einer Bühne thront Amma und umarmt. Einer nach dem anderen wird zu ihr hingezogen und für wenige Sekunden an ihre Brust gedrückt. Amma brummelt ein unverständliches Wort in Malayalam, der Regionalsprache in Kerala. Gleich darauf wird man wieder weggeschoben, es stehen noch so viele an.
Neben einer molligen Inderin im edlen Sari sitzt Corinna und wartet. Um sie herum turnt ihr vierjähriger Sohn Serafin, für ihn sind drei Stunden Stillsitzen eine Qual. Die beiden Deutschen sind auf Weltreise, wohnen seit etwa einer Woche im Ashram, und Corinna hat sich bereits ein Darshan abgeholt. "Man sollte nicht zu ihr gehen, wenn man vorher emotional sehr aufgewühlt ist", sagt sie. "Aufgewühlt im negativen Sinn." Bei Corinna hat das Darshan beim letzten Mal einen ganzen Tag lang depressive Stimmung ausgelöst, erzählt sie.
Eine Inderin irrt völlig aufgelöst mit ihrem Sohn durch die Halle, ihr Gesicht ist Tränen überströmt. Sie hat eine Stunde gewartet, um dann von einem Helfer gesagt zu bekommen, dass sie in der falschen Reihe steht. Ordnung muss sein bei einer solchen Massenabfertigung, und die Inderin hatte sich in die Schlange für "Westerners" eingereiht. Unterdessen küsst Amma weiter.
Umarmungen eine ganze Nacht lang
Sonntags ist Darshan-Marathon. Ab 19.30 Uhr sitzt die Guru-Frau auf ihrem Thron, um Jünger zu empfangen. Die spirituelle Musik ist sogar vom Dach des 15-stöckigen Hochhauses gegenüber zu hören. Sie umarmt noch immer, als hinter dem Palmenwald bereits die Sonne aufgeht und die Fischer in den Backwater-Lagunen ihre Netze spannen. Sie wirkt noch immer frisch, als mehr und mehr müde Gestalten mit schwarzen Augenringen in ihre Betten taumeln. Einzige Zeugen der durchgemachten Nacht sind ein paar zerzauste Haarsträhnen, die ihr aus dem Zopf gerutscht sind. Angeblich war Amma in den vergangenen 30 Jahren nicht einen einzigen Tag krank oder im Urlaub.
Ihre Geschichte ist eine, die nur glauben kann, wer Spiritualität nicht als Hirngespinst verurteilt. 1953 wurde sie an genau dem Ort geboren, wo heute der Ashram steht. Schon als Jugendliche soll sie die Bewohner im Dorf mit einer simplen Umarmung von Sorgen und Nöten erleichtert haben. Anfangs gab sie mit Erlaubnis ihres Vaters Darshans im kleinen Kuhstall der Familie. Ihre ersten Bewunderer schliefen im Sand neben ihrer Hütte. Doch im Laufe der Zeit bevölkerte sich der Platz vor Ammas Heim, und die ersten Unterschlüpfe für Anhänger wurden gebaut.
Die Multiplikation der Jüngerschar gipfelte im Jahr 2000, als selbst der große rosa Tempel zu klein für die vielen Menschen wurde. Die 30.000 Quadratmeter große Darshan-Halle wurde gebaut und ist bis heute die größte ihrer Art in Südindien. 2500 Anhänger und Mitarbeiter leben inzwischen im Ashram. Amma selbst ist jedes Jahr einige Monate auf Reisen um ihre Anhänger in der ganzen Welt zu beglücken. Sogar ihre eigenen Eltern betrachten Amma inzwischen als ihre gütige Mutter, heißt es.