
Unterirdische Kathedrale in Kolumbien In Gottes Gewölbe
Es ist dunkel und stickig auf dem Weg in die Unterwelt: Mit festem Schuhwerk und einem dicken Pullover passieren die Besucher den mächtigen Eingang des Stollens, um in der "Semana Santa", der heiligen Woche, eine der weltweit ungewöhnlichsten Ostermessen mitzuerleben. Grubenführer Javier gibt mit lauter Stimme den zahlreichen Gästen, die in den langen Schlangen vor dem Salzbergwerk warten, die letzten Tipps: "Nehmen Sie sich Zeit. Achten Sie auf Ihren Vordermann, und denken Sie daran: An einigen Stellen kann es eng werden."
Ganz vorne wartet Rafael Orafat. Der 63 Jahre alte Rentner ist mit seiner gesamten Familie extra aus dem Libanon angereist, um sich einfangen zu lassen von der ungewöhnlichen Atmosphäre tief unter der Erde. "Ich bin gespannt, was mich erwartet, ich habe schon viele Pilgerstätten in der Welt besucht, aber das hier ist etwas Besonderes", sagt der tiefgläubige Christ aus dem arabischen Land.
Ein paar Minuten später und wenige Schritte weiter wissen Rafael und die anderen Besucher, warum Javier am Eingang warnend den Zeigefinger hob. Manchmal sind abseits der Hauptpfade die Gänge so schmal, dass es nur vorsichtig vorwärts geht. Wer sich trotzdem breit macht, bezahlt seinen Übermut mit einer schmerzhaften Bekanntschaft mit dem salzigen Felsgestein. Flüche in allerlei Sprachen verraten den nachrückenden Besuchern, wo es besonders brenzlig wird.
Die Höhe der Anden, die ungewöhnlich hohe Luftfeuchtigkeit und die Enge des Ganges sorgen für Kurzatmigkeit. Dabei ist die salzhaltige Luft besonders gesund: Die Kolumbianer treiben derzeit unterirdische Kammern in der Anlage, um Asthma-Kranken eine spezielle Behandlung zu kommen zu lassen: Therapeuten sollen künftig Lungenkranke unter der Erde behandeln. Wer den beschwerlichen Weg hinab in den Salzstollen hinter sich gebracht hat, wird mit einem Spektakel belohnt: Monumentale Kreuze, zierliche Engel und Madonnenstatuen - alle aus Salzkristallen gemeißelt - sind für die nächsten Stunden die schweigenden Wegbegleiter.
Kreuzweg im Salztunnel
Die unterirdische Salzkathedrale liegt in der Kleinstadt Zipaquirá, rund eine Autostunde von der kolumbianischen Hauptstadt Bogotá entfernt auf 2750 Metern Höhe, und ist zu einem Anziehungspunkt für gläubige Christen und neugierige Touristen gleichermaßen geworden. Rund 70.000 Besucher kommen allein in der "Semana Santa", um eine österliche Messe auf kolumbianische Art zu feiern. "Die Leute sind ganz verrückt danach. Die Salzkathedrale ist eines der wichtigsten Ziele in Kolumbien geworden", sagt der venezolanische Touristenführer Ronny Castro.
Die mystische Atmosphäre tief unter der Erde verfehlt ihre Wirkung nicht: "Wenn du in die riesige Halle kommst und das Kreuz siehst, dann bekommst du eine Gänsehaut", sagt Scott Franzis aus Glasgow. Der 24 Jahre alte Student aus Schottland ist wie so viele Besucher tief religiös: "Ich bin hier hingefahren, um das selbst zu spüren, weil ich schon so viel darüber gelesen habe." Auch Ida Mohe aus der venezolanischen Hauptstadt Caracas ist tief beeindruckt: "Unter diesem riesigen Kreuz wirkt der Mensch richtig winzig. Ich bin jetzt zum zweiten Mal hier, weil ich das meinen beiden Kindern unbedingt zeigen will."
Die Ostertage bilden die besucherintensivste und umsatzstärkste Zeit des Jahres. Die Menschen kommen vor allem wegen der 14 Stationen des Kreuzweges Jesu Christi, die durch ein Tunnelsystem miteinander verbunden sind. Getaucht in tiefblaues, graues oder silbriges Licht, erinnern sie an Christi Leiden auf dem Weg zur Kreuzigung. Viele Menschen beten auf den einzelnen Stationen, sie verharren oft mehrere Minuten auf den Bänken aus kaltem Gestein, einige weinen sogar.
Auch der Libanese Rafael ist hier im Gebet versunken. Er kniet auf einer der kargen Felsbänke, die - kalt und weiß - in Richtung der Kreuze aufgestellt sind. Der unterirdische Kreuzweg ist das religiöse Herzstück der gesamten Anlage: Wie ein riesiges Graffito prangt zu Beginn der Schriftzug INRI auf dem Salzgestein. Ingenieure wie José Vicente Salamanca haben die Stationen gestaltet, die fast alle im Jahre 1995 im Rahmen des Neubaus der Anlage entstanden.
Kolumbiens Touristenmagnet
An der zwölften Station, die den Tod Jesu Christi am Kreuz darstellt, befinden sich die Besucher immerhin 80 Meter unter der Erde. Es ist geologisch der tiefste Punkt der Tour, ehe es langsam wieder bergauf geht. Ein paar Meter weiter wartet der optische Höhepunkt: Das riesige, 16 Meter hohe beleuchtete Kreuz aus Salz strahlt in die dreischiffige, 120 Meter lange Kathedrale, in der viele hundert Menschen Platz finden.
In dem unterirdischen Sammelpunkt herrscht ein Sprachengewirr aus spanischen, chinesischen, englischen und gelegentlich auch deutschen Wortfetzen. Seit sich die Sicherheitslage im Land spürbar verbessert hat, haben viele Tourismusveranstalter Kolumbien wiederentdeckt. Zipaquirá spielt wegen seiner Beliebtheit bei den Pilgern eine zentrale Rolle im Tourismuskonzept der Kolumbianer, obwohl dort weder Wunder noch andere bemerkenswerte christliche Ereignisse stattgefunden haben.
Zug um Zug bauen die Kolumbianer die Salzkathedrale weiter aus: Ausgestattet mit einer Grubenlampe können die Touristen jetzt in besonders tiefe und enge Stollen absteigen, um nachzuempfinden, wie einst die Bergleute gearbeitet haben. "Für die Kinder ist das ein großer Spaß. Sie können hier einiges lernen", sagen José Alexander Moreno und seine Frau Darly, die aus dem benachbarten Bogotá gekommen sind. "Das ist hier ein einziges Spektakel."
Alles begann vor mehr als 200 Jahren, als der deutsche Wissenschaftspionier Alexander von Humboldt (1769 bis 1859) den Salzreichtum der Berge rund um Zipaquirá erkannte und den Kolumbianern 1801 empfahl, Stollen in die Berghänge zu treiben. Als das Salz abgebaut war, kamen die Kolumbianer auf die Idee, den leergeräumten Stollen künftig anders zu nutzen. Mit Erfolg: Bereits die in den fünfziger Jahren geschaffene "alte" Kathedrale lockte viele Besucher nach Zipaquirá. Sie lag 60 Meter höher, wurde aber 1992 aus Sicherheitsgründen geschlossen. Verschiedene Untersuchungen hatten ergeben, dass dem Kunstwerk der Einsturz drohte.
Neu erbaute Salzkathedrale 1995 eröffnet
Für den Neubau waren 80 Tonnen Sprengmaterial nötig, um 250 Tonnen Salz aus den Stollen zu bringen. Etwa 250 Ingenieure, Arbeiter und Lastenträger waren drei Jahre lang beschäftigt, ehe der damalige Staatspräsident Ernesto Samper am 16. Dezember 1995 die eindrucksvolle, komplett aus Salz bestehende neue "Catedral de Sal" für die Öffentlichkeit freigeben konnte.
Dem Libanesen Rafael sind all diese technischen Rekordmarken egal. Er ist nach ein paar Stunden aus dem Stollen wieder ans Tageslicht zurückgekehrt. "Hier habe ich das Gefühl, Gott ein wenig näher zu sein. Früher habe ich immer gedacht, man spüre Gott auf den Gipfeln der Berge viel eher. Jetzt weiß ich, dass ich ihm tief unter der Erde viel näher komme."