Vietnam Straßenkinder als Meisterköche

In seiner Kochschule in Hanoi weiht ein Australier Straßenkinder in die Kunst der Küche ein. Inzwischen kommen Prominente wie Bill Clinton oder Laura Bush zum Essen in die KOTO-Akademie – und die Absolventen kriegen Jobs in den besten Hotels der Stadt.
Von Michael Stührenberg

Diese Geschichte soll 1996 beginnen. In jenem Jahr, als Jimmy Pham, damals noch ein australischer Tourist, seine alte Heimat Vietnam besucht. Eines Abends geht er im Viertel um den Hoan-Kiem-See spazieren, im Zentrum von Hanoi. Pham liebt diese Stadt, am meisten den sprudelnden Lebensfluss der Straßen. Deren Ufer, die Trottoirs, sind tagsüber vollgepackt mit Garküchen, Wahrsagern und Schuhputzern, mit Fahrrädern und geparkten Mopeds. Mit Menschen, Menschen, Menschen.

Der Einbruch der Dunkelheit jedoch fegt die Gehsteige leer. Deshalb fallen Jimmy Pham an jenem Abend auch gleich vier Jungen auf, die noch zu später Stunde Kokosnüsse verkaufen wollen. Der Korb, den sie schleppen, ist schwerer als jeder Einzelne von ihnen. Wie schmutzig sie sind, denkt sich Pham, und geht auf sie zu. "Wascht ihr euch nie?", fragt er. "Doch", entgegnet einer von ihnen höflich, "wir waschen uns im Rinnstein."

Es muss diese Antwort gewesen sein, die Jimmy Phams Leben umkrempelte. Der Gedanke, dass Kinder sich mit Abwasser waschen müssen. Er selbst war in Sydney aufgewachsen, 1974 waren seine Eltern mit ihm vor den Schrecken des Vietnamkriegs geflohen. Seine Kindheit: behütet. Waschen konnte er sich stets im Badezimmer der Familie. Vielleicht schickt Pham die Jungen deshalb an jenem Abend sofort zum Duschen in sein Hotel und spendiert ihnen ein üppiges Abendessen.

Als er am Morgen zu einem nächsten Stadtspaziergang aufbrechen will, warten die vier Jungen vor seinem Hotel – begleitet von zehn weiteren Straßenkindern. An den folgenden Tagen werden es bis zu 60 abgerissene Kinder sein, die sich um Pham versammeln. Doch Almosen bewirken nur ein kurzes Glück, sind keine Lösung, weiß Pham. Den Jungen und Mädchen müsste jemand eine neue Familie und eine berufliche Zukunft bieten, denkt er noch. Dann muss er zurück nach Australien.

10.000 Straßenkinder in Hanoi

Drei Jahre später fliegt Jimmy Pham erneut in sein Geburtsland. Mit Vietnam scheint es steil bergauf zu gehen. In den Städten ersetzen Mopeds die Fahrräder. Aber die von den Regierenden eingeführte Marktwirtschaft macht längst nicht alle zu Gewinnern. Besonders die Bauern verarmen, ihre Großfamilien zersplittern. Auf dem Lande können immer weniger Eltern ihre Kinder ernähren; eine Flut von Minderjährigen ergießt sich aus den Reisfeldern direkt auf den urbanen Asphalt. Wie viele es genau sind, weiß niemand. In der Hauptstadt Hanoi leben heute vermutlich 10.000 Kinder auf der Straße. Noch mehr sollen es in Ho-Chi-Minh-Stadt sein, der Wirtschaftskapitale im Süden. Für ganz Vietnam schätzen Hilfsorganisationen die Zahl der Straßenkinder auf 50.000.

Jimmy Pham macht sich auch bei seinem zweiten Besuch keine Illusionen. Wenn überhaupt, wird er nur wenigen dieser Kinder helfen können. Seine Mittel beschränken sich auf ein paar tausend australische Dollar. Einen Teil davon hat er seit seiner ersten Reise gespart, den Rest von Verwandten in Sydney gepumpt. Sein größtes Kapital ist eine Idee – und der Zeitpunkt für deren Verwirklichung scheint günstig.

Denn Vietnam avanciert zu einem beliebten Reiseziel. Japaner, Amerikaner, Australier und Europäer strömen ins Land. In der Quoc-Tu-Giam-Straße von Hanoi können sie eines Tages ein Schild mit der Aufschrift "KOTO" lesen. Es hängt über einem Sandwichladen, der neun Straßenkinder beschäftigt. Im Jahr darauf schmückt der Name bereits ein Restaurant mit Platz für 80 Gäste und mit 20 Lehrlingen in der Küche. Und 2001 mietet Jimmy Pham ein vierstöckiges Haus in einem angrenzenden Stadtbezirk von Hanoi. Für die Einrichtung einer KOTO-Schule. KOTO steht für "Know one, teach one". Lerne jemanden kennen und lehre ihn den Weg weg von der Straße. Den Weg in ein neues Leben.

Köche brauchen Übersicht

Sechs Jahre später. Eine australische Kochlehrerin, von ihrer Klasse nur Louise genannt, lässt den Blick über acht Schülerinnen und Schüler gleiten. Professionell sehen sie aus, mit gestärkten Westen ganz in Weiß, überdimensionalen Kochmützen auf den Köpfen. Die Jugendlichen stehen konzentriert vor einem Arbeitstisch und starren in ein Durcheinander aus tierischen Innereien, das sie laut Lehrplan zu fritierten Nieren anrichten sollen.

"Köche", doziert Louise, "brauchen Übersicht. Sie müssen wissen, was in den Topf kommt und was in die Pfanne. Und zu welchem Zeitpunkt: damit dem Kunden nicht alles gleichzeitig serviert werden muss, die Muschelsuppe, die fritierten Nieren, das Zitronen-Soufflé. Ein guter Koch ist immer auch ein guter Organisator."

Huang Trung Hieu, einer der Klassenbesten, nickt einsichtig. Organisationstalent hat er bereits früh bewiesen. Als Zwölfjähriger allein in diese Stadt gekommen, geriet er mit Freunden in die Hände einer Bande, die vom Erpressen der Straßenkinder lebte. Die Hälfte von dem, was die Kleinen durch Arbeit und Betteln verdienten, mussten sie abliefern. Bis Hieu die Kinder zu einer Interessengemeinschaft organisierte und beschloss, nie mehr zu zahlen. Als die Bande wieder einmal Geld eintreiben wollte, sah sie sich einem mit Steinen und Knüppeln ausgerüsteten Kinderheer gegenüber und ergriff die Flucht.

Schule fürs Leben: Vormittags Benimmtraining, nachmittags Englisch

Hieu, dessen Name "Treue" bedeutet, trägt sein borstiges Haar über der Stirn aufrecht gebürstet. Als liefe er ständig gegen den Wind. Auch sein spitzes Gesicht wirkt wie von Gegenwind gemeißelt. Bevor er zu KOTO kam, hat sich der heute 17-Jährige seinen Lebensunterhalt als Schuhputzer verdient, vor einem Café in der Altstadt Hanois.

Im Durchschnitt brachte er es auf 20.000 Dong pro Tag, knapp einen Euro. Ein Viertel davon ging für die Übernachtung in einer Herberge ab, denn Jugendliche, die nachts von der Polizei im Freien aufgegriffen werden, kommen in ein geschlossenes Heim: zwei Wochen beim ersten, sechs Monate beim zweiten Mal. Werden sie ein drittes Mal erwischt, sagt Hieu, müssen sie bis zu ihrer Volljährigkeit dort bleiben: "Das wäre eine Katastrophe gewesen."

Denn was nach Abzug von Unterkunft und Nudelsuppe vom täglichen Verdienst noch übrig war, schickte er in eine Hütte am Rande eines Reisfelds, 70 Kilometer von der Stadt entfernt, wo die Eltern mit seinen fünf jüngeren Geschwistern lebten. Um mehr abliefern zu können, schuftete Hieu zeitweilig sogar auf dem Bau, schleppte 50 Kilo schwere Säcke fünf Stockwerke hinauf: "Ich war kurz davor, mir Rauschgift zu besorgen und mein Leben einfach zu vergessen", erinnert er sich. Da fand Hieu auf dem Asphalt ein Flugblatt: KOTO – bezahlte Berufsschule für Straßenkinder, inklusive Unterkunft und Verpflegung.

"Als ich den Jungen sah", sagt Jimmy Pham, "wusste ich gleich: Der schafft es!" Selbstverständlich ist das nicht, KOTO-Neulinge müssen ihr Leben von einem Tag auf den anderen komplett ändern. Das Schwerste, sagen alle, sei es, Disziplin zu lernen. Angefangen mit dem Stundenplan: an vier Vormittagen in der Woche Kochunterricht oder Ausbildung als Bedienungspersonal. Nachmittags Englisch, Sätze wie "How do you like your meal, Madam?" Und dazu auch noch lächeln.

Ein Leben in der Hocke, ohne Hoffnung

Die wichtigsten der 48 Stunden im Lehrplan sind allerdings "Life Skills" gewidmet, den Rezepten für Erfolg im Leben: sicheres Auftreten, Teamwork, Umgang mit Geld und mit der Liebe. Unterrichtet wird dieses Fach von Ngyuen Thuy Ha.

Ha ist der beste Beweis, dass noch in jedem Straßenkind ein talentierter Mensch stecken kann, der nur etwas Starthilfe benötigt, um sich entfalten zu können. Sie gehörte zur ersten KOTO-Klasse, die ihre Ausbildung im Jahr 2002 abschloss. Jimmy Pham hatte sie auf dem Gehsteig gegenüber seinem Restaurant entdeckt, wo sie den Passanten für wenige Dong Tee in Gläsern anbot.

Ein Leben in der Hocke, ohne einen Schimmer Hoffnung: der Vater tot, die Mutter unheilbar krank, der Bruder heroinsüchtig und die meiste Zeit im Gefängnis. Ihre Zukunft war die Gegenwart auf dem Trottoir.

Erst bei KOTO entdeckte Ha ihre Talente. Nicht nur erwies sie sich als exzellente Köchin, sie glänzte auch durch Kombinationsgabe, Verantwortungsbewusstsein und eine schier unerschöpfliche Ausdauer. Zum Beispiel bestand sie darauf, nach dem Unterricht weiter Tee auf der Straße ausschenken zu dürfen. Die Mutter brauche Arzneien, sagte Ha nur, als Jimmy Pham fragte, ob ihr die monatlichen 27 Euro Lehrgeld von KOTO nicht ausreichten.

Ha schuftete Tag und Nacht – und konnte ihre Mutter doch nicht retten. Im Sterben hatte die Frau eine letzte Bitte an Jimmy Pham: "Kümmere dich um meine Tochter!" Aber da konnte Ha ihr Leben längst selbst organisieren. Sie zog in ein eigenes Zimmer, richtete es ein mit dem Bett ihrer Mutter, einem Teddybären von der Art, wie man ihn an Schießbuden gewinnt, und einem Foto von sich selbst: mit Kochmütze auf dem Kopf.

Nach ihrer 18-monatigen Ausbildung heiratete sie einen ehemaligen Mitschüler und wurde Lehrerin der KOTO-Schule. Und wenn Louise 2008 nach Australien zurückkehren wird, hat Jimmy Pham bereits angekündigt, dann wird Ha die neue Direktorin: "Ihre gute Laune steckt uns alle an."

Promis aus aller Welt im KOTO

An diesem Abend allerdings hat Ha Tränen in den Augen. Sie sitzt mit Jimmy Pham und einigen Schülern im Erdgeschoss der Schule. Alle drucksen herum, sind niedergeschlagen. Wegen Linh, einer 17-Jährigen, die am Morgen aus der Kochschule ausgeschlossen werden musste. Sie war unzuverlässig. Nie ganz bei der Sache. "Sie hat einfach schon zu lange auf der Straße gelebt, konnte sich bei uns nicht mehr eingewöhnen", erklärt Pham seinen Schülern. Vor allem die Regel, um spätestens neun Uhr abends im Haus zu sein, war unerträglich für Linh. Statt zu schlafen, lauschte sie oft stundenlang den Geräuschen der Stadt: dem Strom der Mopeds, den flüchtigen Worten von Passanten, einem vorüberwehenden Fetzen Musik – und fühlte sich wie vom Leben ausgesperrt.

Und jetzt hocken Jimmy Pham, Ha und die anderen ebenso elend zusammen und wirken, als sei der große Plan fehlgeschlagen. Dabei ist Linh nur eine Ausnahme: Über 200 Straßenkinder sind in den sechs Jahren seit der Eröffnung zu Köchen, Kellnern oder Barkeepern geworden. Alle Absolventen haben gute Jobs gefunden, ein Dutzend sogar in Luxuspalästen wie dem Hilton, Sofitel Plaza und Sofitel Metropole.

Auch außerhalb des Landes gilt Jimmy Phams Konzept als Erfolgsmodell. Vor laufender Kamera kehren internationale Berühmtheiten bei ihm ein. Etwa Bill Clinton. Oder die amerikanische Präsidentengattin Laura Bush, die kürzlich im Pulk ihrer Leibwächter zum Mittagessen bei KOTO auftauchte. Und Jannette Howard, Australiens First Lady, die zwei Stunden später nach Tee und Gebäck verlangte. So wird diese Geschichte noch lange nicht enden, schon gar nicht in einer der Gossen von Hanoi.

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